Die Ausstellung beginnt mit Wien, wo er seit der Studentenzeit lebte und mit einem Paukenschlag als Dreißigjähriger in die erste Liga der Architekturwelt eintrat: die Planung und Errichtung der Wiener Secession 1897, die nötig wurde, weil Gustav Klimt und andere sich von dem akademisch orientierten Wiener Künstlerhaus abgespalten hatten und als Seccionisten neu begannen. Noch heute übt das von tosendem Verkehr umstellte weiße viereckige Gebäude mit der feingliedrigen Kugel aus Gold einen unschuldigen Reiz aus, der die Zeitgenossen zur Weißglut trieb, wenn sie von der „assyrischen Bedürfnisanstalt“ sprachen, die er gebaut habe. Da lagen sie mit Bezeichnung zwar von der Funktion her nicht richtig, aber regional durchaus. Denn die arabische Welt ist eine der Bezugsgrößen, die für Olbrich wichtig wird. Das zeigen die Federskizzen aus Tunis von 1894, wo man verblüfft wahrnimmt, daß Olbrich schon das alles gezeichnet hatte, was zwanzig Jahre später August Macke und Paul Klee in Deutschland bekannt machten.
So geht es einem in der Ausstellung übrigens unentwegt. Man sieht Dinge, erhascht Silhouetten, findet Farben und Formen, die einem sehr bekannt sind, von denen man aber erst hier erfährt, daß ihr Urheber tatsächlich Olbrich ist. Er ist viel stärker ins allgemeine Formenbewußtsein eingedrungen, als wir heute noch wissen. Für seine Zeit allerdings war das bekannt und Otto Wagner, selbst einer der Heroen des Wiener Jugendstil, in dessen Büro Olbrich die erste Jahre mit Entwerfen verbrachte, hatte ihn als „kaum zu fassendes Genie“ bezeichnet, womit er „ein beispielloses Talent von übermenschlicher Schaffenskraft“ meinte. Das hatte auch Großherzog Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein (Hessen-Darmstadt) erkannt, der regelmäßig in Wien weilte und für die moderne Kunst eintrat. Auch etwas, was erwähnenswert ist, denn uns Nachgeborenen sind Adel und Fürstentum eher als rückwärtsgewandt und konservierend bekannt.
Ernst Ludwig also wollte eine Darmstädter Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe ansiedeln, was Ausgangspunkt für die Verpflichtung von Olbrich wurde, der die Gesamtleitung innehatte. Das muß man sich vorstellen, daß da einer aus der Weltmetropole Wien ins kleine Darmstadt geht. Das macht man nur, wenn einen das reizt und das Verhältnis zwischen Ernst Ludwig und seinem Ersten Künstler war eines, auf das Olbrich bauen konnte, weil er ihn in der Wirklichkeit bauen ließ: die Künstlerkolonie entstand ab 1899 und Olbrich blieb der einzige Architekt unter den Künstlern. Das ist wichtig zu erwähnen, denn in der Ausstellung wird seinen Kollegen und ihren Häusern auf der Mathildenhöhe Raum gegeben und so erfährt man verblüfft, daß Peter Behrens – heute in Deutschland weit bekannter als Olbrich – damals nur als Maler und Graphiker arbeitete. Das Ernst-Ludwig-Haus, das heute als Museum der Künstlerkolonie dient und deren Riesenatlanten deshalb so selten zu sehen sind, weil man in der Regel von oben ins Haus geht, die aber den unteren Eingang zieren, hat auch Olbrich gestaltet, wie auch andere Häuser in Darmstadt. Aber noch bestimmender wurde sein Einfluß im Bereich angewandter Kunst.
So zeigt die Ausstellung Keramikgeschirr für die Künstlerkolonie, das er entworfen hatte und das die Wächtersbacher Keramik produzierte. Vom Möbelstück, über den Flügel, alles wurde nachgefertigt und Olbrich hatte mit seinen neuen Formen die heimische Kleinindustrie in Schwung gebracht. Dies wird in der Ausstellung immer wieder vielfältig dokumentiert. Dennoch wird das Hauptaugenmerk auf die Bautätigkeit gelegt. Denn schließlich ist mit dem Hochzeitsturm das Bauwerk entstanden, was als Symbol Darmstadts in die Welt ging. Dabei handelt es sich um einen fünffingrigen Turmbau, also einen Turm, der mit fünf unterschiedlich hohen Rundbögen endet, den die Stadt Darmstadt anläßlich der Vermählung des Großherzogs 1905 bei Olbrich in Auftrag gab und der 1908 fertig wurde. Wenn man den Bau als Jugendstil bezeichnet, ist das nicht falsch, aber der Hochzeitsturm zeigt ganz deutlich den Weg auf, den Olbrich zusammen mit anderen Richtung Expressionismus ging.
In der Ausstellung kann man seine architektonische Entwicklung sehr übersichtlich an den einzelnen Häusern nachvollziehen. In eigenen Stationen werden die Zeichnungen gezeigt, dann Modelle des Plans sowie anhand von Fotografien die Verwirklichung der Häuser. Teils auch ihr Jetztstand. Was Olbrich allein in Darmstadt an Masse schaffte, glaubt man kaum, wenn man dann sieht, wie er gleichzeitig noch anderswo entwarf und baute und doch ständig auch bestimmte Häuser als Gesamtkunstwerke vom Boden bis zum Dach einrichtete. Letzten Endes wurde Darmstadt zu klein für ihn. Denn außer den Aufträgen des Großherzogs war keine finanzkräftige und an Großbauten interessierte Klientel in der Provinz vorhanden.
Es zog Olbrich nach Düsseldorf, wo er den letzten und größten Auftrag verwirklichte, das Kaufhaus Leonhard Tietz, das heute als Kaufhof nicht mehr ahnen läßt, wie sinnig er Äußeres und Inneres in einem Stil gestaltet hatte. Die „Hessische Landesausstellung für freie und angewandte Kunst“ führte auf der Mathildenhöhe 1908 noch einmal alle zeitgenössisch Kunst und ihre Künstler in Darmstadt zusammen. Für diese hatte Olbrich ein ’Arbeiterhaus Opel’ entworfen, ein Musterhaus für Arbeiter, weil längst aus den einst bürgerlichen Aufträgen für großbürgerliche Anwesen der Bau von lichten, billigen und trotzdem ansehnlichen und lebenswerten Massenhäusern Programm war. Wenn man den gewaltigen Aufwand betrachtet, den diese Ausstellung für Darmstadt mit sich brachte, dann weiß man, daß Ernst Ludwig und Olbrich zusammen diese Stadt zum Zentrum zeitgenössischen Bauens gemacht hatten. Damals. Heute geht die Diskussion im Rhein-Main-Gebiet seit vielen Jahren zäh und zermürbend um eine neue Bauausstellung. Es ist weder ein Ernst Ludwig, noch ein Olbrich in Sicht.
Was passiert wäre, wenn Olbrich 1908 nicht mit erst vierzig Jahren an Leukämie gestorben wäre, sondern weiter der Antrieb für so viele gewesen wäre, mag man sich gar nicht vorstellen in dieser mit 400 Exponaten überbordenden Ausstellung auf tausend Quadratmetern. Denn erst einmal steht man andächtig vor einem Riesenwerk, das einer in Gang setzte gegen die Widerstände der Umgebung, einfach weil ein neues Lebensgefühl für ihn auch neues Bauen, neues Gestalten, neue Farben, neue Formen bedeutete. Angesichts dieser Phantasie für morgen, was für uns längst vorvorgestern ist, kommt man sich auf einmal ganz schön alt vor.
Ausstellung: bis 24. Mai in Darmstadt. Bitte das umfangreiche Begleitprogramm aus dem Internetauftritt abrufen. Anschließend vom 18. Juni bis 27. September 2010 im Leopoldmuseum in Wien
Katalog: Joseph Maria Olbrich 1867 -1908. Architekt und Gestalter der frühen Moderne, hrsg. von Ralf Beil und Regina Stephan, Mathildenhöhe Darmstadt, Verlag Hatje Cantz 2010
Daß dieser Ziegelstein und als Katalogbuch bezeichnete Band seine schwergewichtige Berechtigung hat, erkennt jeder, der in ihm herumblättert oder ernsthaft zu lesen und zu studieren anfängt. Es gibt in der Literatur nämlich nicht sehr viel zu diesem wichtigen Zeitgenossen der Moderne, der in allen angewandten Künsten zu Hause war. So ist man auch inhaltlich erschlagen, wenn man betrachtet, wieviel und wieviel Verschiedenes und doch aus einem Guß Joseph Maria Olbrich geschaffen hat. Kluge Worte gehen eine Verbindung ein mit schönen Bildern, die dem Text die visuelle Aussage zur Seite geben.
Hörbuch: Joseph Maria Olbrich, erschienen in der Reihe „Kunst zum Hören“ im Verlag Hatje Cantz. Sonst haben wir uns diese Hörbücher meist im Anschluß an Ausstellungen angehört und die im Begleitbuch ausgewählten Werke, zu denen es jeweils Texte gibt, angehört. Diesmal haben wir die CD auf der Fahrt nach Darmstadt im Auto gehört und das hat einen schönen Effekt, wenn man in der Ausstellung wiedersieht, wovon man gerade gehört hatte. Daß dann anschließend die CD nochmal goutiert werden kann, ist eine weitere Vertiefung beim Betrachten der 55 ausgewählten Titel.
Internet: www.mathildenhoehe.eu