Die Schlacht der Titanen

Vor sechs Jahren schockierten die beiden Professoren die US (und Israel), als sie das Buch „Die israelische-Lobby und die US-Außenpolitik“ veröffentlichten, in dem sie behaupteten, die ausländische Politik der USA in der Welt oder mindestens im Nahen Osten werde praktisch vom Staat Israel bestimmt.
Um ihre Argumentation zu umschreiben: Washington DC ist tatsächlich eine israelische Kolonie. Der Senat und das Haus der Vertreter sind beide israelisch besetztes Gebiet, so etwa wie Ramallah und Nablus.
Dies ist der Behauptung von Noam Chomsky völlig entgegengesetzt, dass Israel eine Schachfigur der US sei, die vom amerikanischen Imperialismus als Instrument benützt werde, seine Interessen auszuführen.
(Ich kommentierte damals, beide Seiten hätten Recht, und dies sei eine einmalige Hund-Schwanz-Beziehung. Ich zitierte sogar den alten jüdischen Witz von dem Rabbiner, der einem Kläger sagt, er habe Recht. und dann dem Angeklagten dasselbe sagt. „Aber sie können doch nicht beide Recht haben“, protestiert seine Frau: „Du hast auch recht!“antwortet er.)
Intellektuelle Theorien können selten zu einem Labortest genommen werden. Aber mit diesen geht es.
Es geschieht jetzt. Zwischen Israel und den US hat sich eine Krise entwickelt, und dies kam an die Öffentlichkeit.
Es geht um die mutmaßliche iranische Atombombe. Präsident Barack Obama ist entschieden, eine militärische Kraftprobe zu verhindern. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ist entschlossen, einen Kompromiss zu verhindern.
Für Netanjahu ist die iranische Nuklear-Sache zu einem endgültigen Problem geworden, sogar zu einer Obsession. Unaufhörlich spricht er darüber. Er hat erklärt, dies sei eine „existenzielle“ Bedrohung für Israel, es sei die Möglichkeit eines zweiten Holocaust. Im letzten Jahr gab er selbst eine Vorstellung bei der UN-Voll-Versammlung und zeichnete in kindlicher Weise eine Bombe.
Zyniker sagen, dies sei nur ein Streich, ein erfolgreicher Trick, um die Aufmerksamkeit der Welt vom palästinensischen Problem abzulenken. Und tatsächlich, seit Jahren ist die israelische Besatzungs- und Siedlungspolitik beinahe aus  dem internationalen Gedächtnis verschwunden: Still verschwinden, fort aus dem Rampenlicht.
Aber in der Politik kann ein Trick mehreren Zwecken auf einmal dienen. Netanjahu ist es mit der iranischen Bombe ernst. Der Beweis: mit diesem Problem ist er bereit, etwas zu tun, was noch kein israelischer Ministerpräsident vor ihm jemals gewagt hat, die israelisch-amerikanischen Beziehungen zu gefährden.
Dies ist eine Entscheidung von großer Tragweite. Israel ist in fast jeder Hinsicht von den US abhängig. Die US zahlt Israel jährlich einen Tribut von mindestens drei Milliarden Dollars und tatsächlich ist  es viel mehr. Sie verkaufen uns die modernsten Waffen. Ihr Veto schützt uns vor dem UN-Sicherheitsrat, egal was wir tun.
Wir haben keinen anderen permanenten Freund in der Welt außer vielleicht die Fidschi-Inseln.
Wenn es etwas gibt, mit dem praktisch alle Israelis übereinstimmen, so ist es dies. Ein Bruch mit den US ist undenkbar. Die US-israelische Beziehung ist – um einen hebräischen Ausdruck zu benützen, der von Netanjahu gern gebraucht wird – „Der Felsen unserer Existenz“.
Was gedenkt er zu tun?
Netanjahu wurde in den US erzogen. Dort besuchte er das Gymnasium und die Universität. Dort begann er mit seiner Karriere.
Er braucht keine Berater, wenn es sich um US-Angelegenheiten handelt. Er betrachtet sich selbst als den schlauesten Experten von allen.
Er ist nicht dumm. Er ist auch kein Abenteurer. Er gründet sich selbst auf solide Beurteilung. Er ist davon überzeugt, diesen Kampf zu gewinnen.
In gewissem Sinn ist er ein Anhänger der Walt-Mearsheimer-Doktrin.
Seine augenblicklichen Schritte gründen sich auf die Beurteilung, dass in einer direkten Konfrontation zwischen dem Kongress und dem Weißen Haus der Kongress gewinnen werde. Obama vergießt schon auf Grund anderer Probleme Blut, werde geschlagen, womöglich zerstört werden.
Stimmt, Netanjahu hat sich da das letzte Mal geirrt, als er so etwas wie Folgendes versuchte. Während der Präsidentenwahlen unterstützte er offen Mitt Romney. Die Idee war, dass die Republikaner gewinnen müssten. Der jüdische Casino-Baron Sheldon Adelson schüttete sein Geld in ihre Kampagne, während er gleichzeitig ein tägliches israelisches Massenblatt für den einzigen Zweck herausgab, Netanjahu zu unterstützen.
Romney konnte nicht verlieren- doch er tat es. Dies sollte für Netanjahu eine Lektion gewesen sein, aber er nahm sie nicht auf. Er spielt jetzt dasselbe Spiel, aber um einen viel höheren Einsatz.
Wir sind jetzt in der Mitte des Kampfes, und es ist viel zu früh, das Ergebnis voraus zu sehen.
Die jüdische pro-Israel-Lobby AIPAC, unterstützt von anderen jüdischen und evangelikalen Organisationen, lässt ihre Kräfte auf dem Kapitol-Hügel antreten. Es ist eine eindrucksvolle Show.
Ein Senator nach dem anderen, ein Kongressmann nach dem anderen, kommt nach vorne, um die israelische Regierung gegen ihren eigenen Präsidenten zu unterstützen. Es sind dieselben Leute, die wie Marionetten auf- und absprangen, als Netanjahu seine letzte Rede vor beiden Häusern des Kongresses hielt. Jeder versuchte, den anderen mit Behauptungen ihrer unsterblichen Loyalität gegenüber Israel zu übertreffen.
Dies geschah in aller Öffentlichkeit, es war eine Aufführung der Scham. Mehrere Senatoren und Kongressleute erklären öffentlich, dass sie vom israelischen Geheimdienst informiert worden wären, und dass sie ihnen mehr vertrauten als den Geheimdiensten der USA. Nicht einer von ihnen sagte das Gegenteil.
ies würde undenkbar gewesen sein, wenn es sich um ein anderes Land gehandelt hätte, sagen wir mal. Irland oder Italien, aus dem viele Amerikaner stammen. Der „Jüdische Staat“ steht einzigartig da – eine Art von umgekehrtem Antisemitismus.
Tatsächlich haben einige israelische Kommentatoren gescherzt, dass Netanjahu an die Protokolle der Weisen von Zion glaubt, an die berühmten – und berüchtigten – Traktate, die von der Geheimpolizei des Zaren fabriziert worden seien. Sie deuteten auf eine unheimliche Verschwörung der Juden hin, die Welt zu regieren. Mehr als 100 Jahre später kommt sie dem mit der „Beherrschung“ der US-Politik nahe.
Die Senatoren und Vertreter sind keine Dummköpfe (nicht alle von ihnen).
Sie haben einen klaren Zweck: wiedergewählt zu werden. Sie wissen, auf welcher Seite ihre Brotschnitte mit Butter bestrichen wird. AIPAC hat bei mehreren Testfällen demonstriert, dass sie jeden Senator oder Kongressmann absetzen könne, der nicht die gerade israelische Linie vertritt. Ein Satz mit indirekter Kritik an Israels Politik genügt, um einen Kandidaten zu verurteilen.
Politiker bevorzugen Scham und Lächerlichkeit statt politischen Selbstmord. Keine Kamikaze-Piloten im Kongress.
Dies ist keine neue Situation. Sie ist mindestens einige Jahrzehnte alt. Was neu daran ist: ist, es geschieht jetzt in der Öffentlichkeit – ohne Beschönigung
Es ist schwierig zu wissen, jedenfalls jetzt, wie weit das Weiße Haus durch diese Entwicklung eingeschüchtert ist.
Obama und sein Außenminister John Kerry wissen, dass die amerikanische öffentliche Meinung ganz und gar gegen jeden weiteren Krieg im Nahen Osten ist. Ein Kompromiss mit dem Iran liegt in der Luft. Dies wird von fast allen Weltmächten unterstützt. Sogar die französischen Wutanfälle, die keinen klaren Zweck haben, werfen nur ihr angebliches Gewicht um sich, sind nicht ernst zu nehmen.
Präsident Francois Hollande wurde in dieser Woche wie ein Bote des Messias in Israel empfangen. Schließt man seine Augen, könnte man sich vorstellen, dass die glücklichen alten Vor-De-Gaulle-Tage zurück wären, als Frankreich Israel bewaffnete, mit seinem militärischen Atomreaktor ausstattete, ja, mit ihm Pferde stehlen ging, (das misslungene Suez-Abenteuer 1956).
Aber wenn Obama und Kerry zusammenhalten und auf ihrem Kurs bezüglich des Iran bleiben, kann der Kongress den entgegengesetzten Kurs einnehmen? Könnte dies die ernsteste Verfassungskrise in der US-Geschichte werden?
Als Nebenvorstellung bemüht sich Kerry weiter, Netanjahu einen Friedensvertrag aufzuzwingen, den er nicht wünscht. Dem Außenminister gelang es, Netanjahu in „Endstatus-Verhandlungen“ zu stoßen (Keiner wagte, das Wort Frieden auszusprechen; Gott bewahre!). Doch keiner in Israel oder Palästina glaubt, dass irgendetwas dabei herauskommt. Es sei denn natürlich, wenn das Weiße Haus mit der ganzen Macht der US hinter den Bemühungen steht – und das scheint eher unwahrscheinlich.
Kerry hat für die Bemühungen neun Monate vorgesehen wie jede andere Schwangerschaft. Aber die Chancen für ein Baby sind praktisch null. Während der ersten drei Monate haben die Seiten (gemeint ist Israel) keinen einzigen Schritt vorwärts getan.
Wer wird also gewinnen? Obama oder Netanjahu? Chomsky oder Walt/Mearsheimer?
Wie Kommentatoren zu sagen pflegen: Die Zeit wird es sagen.
Inzwischen schließt eure Wetten.
Anmerkungen:
Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde von Ellen Rohlfs ins Deutsche übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Die Erstveröfffentlichung erfolgte unter www.uri-avnery.de am 23.11.2013. Alle Rechte beim Autor.
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