Die in Himmeln schürfen – Rezension zum Buch „Taucher in der Wüste“ von Andreas B. Bengsch und Udo Scheer

"Taucher in der Wüste" von Andreas B. Bengsch und Udo Scheer. © Mitteldeutscher Verlag

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Romane, die von Reise zu Reise ziehen, bereiten ja seit Rabelais/Gargantua und Pantagruel oder Swift/Gullivers Reisen oder Virginia Woolf/Orlando oder Stevenson/Die Schatzinsel unendliches Vergnügen.

Dass Haftorte in diesem Roman auch eine Rolle spielen, steigert die Spannung, wie sehr sie als Sprungfedern der Geschichte dienen.

Alkohol als Motiv bewährte sich in Romanen von Jack London bis Charles Bukowski und schafft fast augenblicklich die hochgeschätzte Einheit von Ort, Zeit und Handlung, denn Alkohol gibt es überall, [sogar für geschätzte Ausländer im arabischen Raum ein Glas Wein (erlebte der Rezensent in Nouakchott, der Hauptstadt von Mauretanien), und die nach Promille Dürstenden werden überall danach suchen wie Gold.

„Der Mann stößt mit dem Kopf gegen den Himmel und schreit auf vor Schmerz.“ Mit diesem Satz betritt der Hauptprotagonist Carl Grafdas Geschehen. (Über ein Dutzend Seiten zuvor zeichnet der Autor Scheer des Romangespanns Andreas B. Bengsch und Udo Scheer nach, wie er in den Sog von Graffs unverschuldeter und auch selbstverschuldeter Odyssee gerät und die unflätige virtuelle Welt ihn mit ihrer dauerhaft schlechten Laune konfrontiert.

Dies holt einen insofern ab, das dieser Zwang zum unablässigen Sticheln in den sozialen Netzwerken – im schwächeren und stärkerem Maße – längst sich etabliert hat.

Der Ingenieur dabei ist der Menschentyp, der von der Unerbittlichkeit und der Selektionsgeilheit der modernen Zivilisation zerfressen wurde.

An Carl Graff, der früh die Sicherheitsdienstleistungen der zweiten deutschen Tyrannei zu spüren bekam, frisst etwas anderes: die Arbeit, das Erlebnis der totalen Unterdrückung, der ungeschriebenen Entmündigung und Entwürdigung, weil die ergraute Garde der politischen Machthaber es nie besser gelernt hat und ein rostigerNagel sich nicht mehr gerade biegen lässt, in ein Heiligtum, in ein inneres Königreich umzuwandeln.

Der Spannungsbogen baut sich auf der Frage auf, ob dieser Kampf ihn im Nachhinein ebenfalls zerfrisst oder das Geschehen längst ihn zerfressen hat oder ob er als heiliger Trinker etwas Unzerstörbares um seine Welt zubauen weiß. Es ist die Welt der poetischen Alkoholiker, die tief in Himmeln schürfen.

Graffs Begegnungen mit Persönlichkeitenaus unterschiedlichsten Zeiträumen wie mit Lino Ventura, Marlene Dietrich, Fernandel, Jean Gabin, Simone Signoret auf einem Sandplatz beim Pétanaque-Spiel, eine Art Boule, verweisen darauf wie auf eine späte Gerechtigkeit für alle, die frei gekommen sind von der jeder Art von Gewalt und Grausamkeit.

Das Bild des Wüstentauchers, mit dem Graff charakterisiert wird, entspricht dem Chaos seiner trockenen Kehle. Der Alkohol ist nicht das Schiff, auf dem er untergeht, sondern die Montgolfière, die ihn im Himmelschürfen lässt und von einem europäischen Land ins andere immer auf der Suche ist „nach einem Satz, der das Gespräch [mit den anderen] am Leben hält.“

Wir sind ein Gespräch, lautete die Losung der Tübinger Stiftkameraden Schelling, Hegel und Hölderlin. Und das ist, unter Rücksichtnahme auf die „tiefe Poesie“ Graffs, ebenfalls der holpernde tiefere Sinn seiner wunderbaren europäischen Babelei.

Alles in allem ist das Buch „Taucher in der Wüste“ von Andreas B. Bengsch und Udo Scheer ein schmaler, aber um so beeindruckender Roman.

Bibliographische Angaben

Andreas B. Bengsch und Udo Scheer, Taucher in der Wüste, Die Nächte und Tage des Carl Graff, Roman, 224 Seiten, KlBr., Format: 130 × 200 mm, Mitteldeutscher Verlag, 1. Auflage, Halle, Juli 2018, ISBN: 978-3-96311-015-3, Preise: 16 EUR (D)

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