Lediglich Claus Peymann sorgte für Unterhaltung. Der Direktor des Berliner Ensembles präsentierte sich, wie gewohnt, allwissend und schlecht gelaunt, schaltete gelegentlich sein gewinnendes Lächeln ein, und nutzte seinen Auftritt zu einem Rundumschlag gegen alles, was ihm am zeitgenössischen Theater im Allgemeinen und an der Auswahl des Theatertreffens im Besonderen missfällt.
Der Publizist und Performer C, Bernd Sucher versuchte so charmant wie vergeblich, zwischen den Parteien zu vermitteln und durch Zeitansagen Spannung aufkommen zu lassen. Immerhin wäre das Preisgeld verfallen gewesen, wenn die Jury nach einer Stunde keiner Kandidatin oder keinem Kandidaten den Preis zuerkannt hätte. Diese Gefahr wurde jedoch relativ bald ausgeschlossen, als die Jury sich darüber einigte, dass der Preis auf jeden Fall vergeben werden müsse.
Die beiden Jurorinnen verloren die Lust am Streiten, nachdem Claus Peymann ihnen mehrfach rüde über den Mund gefahren war. Schließlich einigte sich wohl auch nicht die Jury, sondern drei ihrer Mitglieder beugten sich der Entscheidung von Claus Peymann.
Eva Behrendt (Theaterkritikerin und Mitglied der Theatertreffen-Jury) hatte Christoph Schlingensief als Preisträger vorgeschlagen. Nachdem das Theatertreffen mit einem Fest für Schlingensief begonnen hatte, wäre es sicher eine gute Lösung gewesen, Schlingensiefs Arbeit nun auch mit dem 3sat-Preis zu krönen.
Peymann jedoch erklärte Schlingensiefs Produktion „Eine Kirche der Angst“ zur Nicht-Kunst, und nachdem auch C. Bernd Sucher, der allerdings differenzierter argumentierte, sich für den Vorschlag von Eva Behrendt nicht erwärmen konnte, war der erste Kandidat schnell vom Tisch.
Jenny Erpenbeck (Autorin und Regisseurin) votierte für Marion Breckwoldt, die in Volker Löschs Inszenierung „Marat, was ist aus unserer Revolution geworden?“ den Marquis de Sade verkörpert.
Dagegen argumentierte Peymann, Marion Breckwoldt sei zwar eine großartige Schauspielerin, für diese Leistung jedoch nicht auszuzeichnen, da die Rolle des Marquis de Sade eine Männerrrolle sei, die nicht von einer Frau gespielt werden dürfe.
Da staunt der Laie …
Gegen C. Bernd Suchers Vorschlag, Annette Paulmann für ihre schauspielerische Leistung in Andreas Kriegenburgs Kafka-Inszenierung „Der Prozess“ den Preis zu verleihen, hatte Claus Peymann eigentlich nichts einzuwenden. Er bemerkte lediglich, bezüglich der Preisverleihung habe er gewettet, dass Annette Paulmann der Kompromiss sein werde.
Das aber hat Annette Paulmann ganz sicher nicht verdient, und so ist es erfreulich, dass Peymann seine Wette verloren hat. Peymanns Vorschlag dagegen hat gewonnen, und auch das ist erfreulich, denn Claus Peymann entschied sich für Birgit Minichmayr, Werner Wölbern und Nicholas Ofczarek, die in Martin Kusejs Inszenierung „Der Weibsteufel“ auf der Bühne stehen und in der Tat sensationelle Leistungen vollbringen.
Diesem Votum konnten sich auch die anderen Jury-Mitglieder uneingeschränkt anschließen, auch wenn sie, im Gegensatz zu Peymann, das Stück nicht als sehenswert bezeichneten.
Das Schauspiel des Tiroler Arztes und Dramatikers Karl Schönherr (1869 – 1943) ist sehr schlicht konzipiert. Der mörderische Konflikt ist von Anfang an erkennbar, überraschende Wendungen gibt es nicht, und so ist das Ganze leicht durchschaubar und nicht sehr spannend. Daran können auch Regie und Darstellung nichts ändern.
Schönherrs fragwürdige Aussagen jedoch werden, allein schon durch die Besetzung, abgemildert und bekommen durch die feinsinnige Interpretation von Birgit Minichmayr, Werner Wölbern und Nicholas Ofczarek Glaubwürdigkeit und psychologische Tiefe.
„Der Mann“, „Sein Weib“ und „Ein junger Grenzjäger“ nannte Schönherr die drei Personen seines Stücks. Der Mann und sein Weib sind seit sechs Jahren verheiratet und immer noch kinderlos. An der Frau kann das nicht liegen, denn die ist gesund und stark und sehnt sich nach Mutterschaft. Schuld sein muss der Mann, denn der ist zwar schlau, aber körperlich schwächlich und kränklich.
Und dann erscheint der Grenzjäger, ein junger Kraftprotz, dem Dr. Schönherr auf den ersten Blick Zeugungsfähigkeit bescheinigen konnte.
Aber obwohl die junge, gesunde Frau und der ebenso junge und gesunde, starke Jäger auf die Idee kommen, den ungesunden Schwächling, nämlich den Mann, auszumerzen und sich dann zwecks Produktion gesunder Sprösslinge zusammenzutun, wird nichts daraus.
Der Jäger ist im Auftrag seines Vorgesetzten unterwegs. Er soll die Schmuggelgeschäfte des Mannes aufdecken und sich deshalb an die Frau heranmachen.
Der gewitzte Mann jedoch hat das behördliche Vorhaben längst ausspioniert und überredet seine Frau, den Jäger zu umgarnen und hinters Licht zu führen.
Zwischen dem Jäger und der Frau brandet unvermeidlich die Leidenschaft auf, aber die Frau entdeckt, dass sie von beiden Männern nur benutzt wird. Sie mutiert zum Vamp und setzt ihre Reize ein, um die Männer in einen tödlichen Zweikampf zu hetzen.
Birgit Minichmayr ist eine zierliche Person und ganz und gar keine Brunhilde, Werner Wölbern sieht überhaupt nicht aus wie ein Schwächling, und Nicholas Ofczarek beeindruckt optisch vor allem durch seine Körperlänge, die es ihm ermöglicht, den Mann von oben herab zu betrachten.
Bühnenbildner Martin Zehetgruber hat riesige, kreuz und quer übereinander gestapelte Baumstämme auf die Bühne schaffen lassen. Das ist das Zuhause des Mannes und seiner Frau. Dort balancieren sie herum in der Hoffnung auf das schöne Haus am Marktplatz, das der Mann von seinen Gewinnen aus dunklen Geschäften kaufen will.
Werner Wölbern spielt den Schwächling, der vielleicht gar nicht so kränklich ist, wie er tut. Es gefällt ihm, den Pascha zu geben und sich von seiner Frau umsorgen zu lassen. Er ist ein raffinierter Geschäftsmann, der sich auf seinen klugen Kopf und seinen Spürsinn verlassen kann. Außerdem verfügt er über kriminelle Energien und hat keinerlei moralische Skrupel. Damit ist er erfolgreich. Mit dem Messer oder den Fäusten kann und mag er sich nicht behaupten, obwohl er durchaus imstande ist, seine Frau zu schlagen.
Nicholas Ofczarek, der Grenzjäger, ist ein ganzer Kerl, tapfer und aufrichtig. Aber ehrgeizig ist er auch, und weil er befördert werden möchte, hat er den Auftrag übernommen, der Frau den Hof zu machen, um so an ihren Mann heranzukommen und dessen Handel mit Schmuggelware aufzudecken.
Der Jäger hat zwar keine Erfahrung mit Frauen, denn der Kraftprotz ist eigentlich ein Muttersöhnchen, aber eben deshalb stellt er sich seine Aufgabe ganz leicht vor. Und dann überfallen ihn in der Nähe der Frau plötzlich Gefühle, die er bis dahin nicht gekannt hat und gegen die er sich nicht wehren kann.
Der Frau geht es ähnlich mit dem Jäger. Sie will ihn ja, im Auftrag ihres Mannes, nur ein bisschen becircen, obwohl sie zunächst gar nicht weiß, wie sie das anfangen soll. Dann aber fühlt sich die Frau gegen ihren Willen unwiderstehlich von dem Jäger angezogen.
Die Spannung zwischen den Beiden, die sich in fahriger Unsicherheit, Aggressivität und rührender Zärtlichkeit äußert, ist faszinierend zu erleben.
Oft genug ist das auch komisch, weil es ein Spiel voller Irrtümer und Missverständnisse ist.
Während der Jäger seinen Glauben an sich selbst verliert und, als könne er das Gleichgewicht nicht halten, kaum noch wagt, die Baumstämme zu betreten, schleicht der Mann herum und scheint überzeugt, dass er die Oberhand behalten wird.
Birgit Minichmayr entwickelt sich vom anfangs etwas ruppigen, netten Mädchen zu einer Frau, die zum ersten Mal leidenschaftliche Liebesgefühle empfindet, sich ihres bisherigen öden Lebens bewusst wird und ihre Macht über Männer entdeckt. Sie würde wohl fortgehen mit dem Jäger, aber der ist im Grunde ein noch viel größerer Feigling als ihr Mann.
Die Frau erfüllt ihren Auftrag. Der Jäger wird degradiert und muss anderswo hingehen. Aber von ihm im Stich gelassen zu werden und bei dem Mann, den sie verachtet, zurückbleiben zu müssen, erträgt die Frau nicht. Und so arrangiert sie eine letzte Begegnung zu Dritt.
Dabei tanzt Birgit Minichmayr zwischen den beiden Männern, fällt dem Einen und dem Anderen in die Arme, reizt die Männer auf mit einer unglaublich raffinierten erotischen Intensität, spielt sie gegeneinander aus und bringt sie so um den Verstand, dass die Männer schließlich aufeinander losgehen und der Jäger den Mann ersticht.
Nachdem das geschehen ist, sagt die Frau zum Jäger: „Du hast ihn umbracht. Du ganz allein.“
Minichmayr sagt das ganz leise und nicht triumphierend. Sie stellt es einfach fest. Dann wendet sie sich ab und geht, befreit, und doch ganz allein und irgendwie auch verloren.
Regisseur Martin Kusej hat sein wunderbares Ensemble zu einem ganz dichten, höchst konzentrierten Zusammenspiel zusammengeschweißt, und Dank dieser großartigen Leistung ist aus dem altbackenen Stück doch ein bewegender Theaterabend geworden.
„Der Weibsteufel“ von Karl Schönherr, Regie Martin Kusej, eine Produktion des Burgtheaters, Wien, war im Rahmen des Theatertreffens 09 am 14. und 15.05. im Haus der Berliner Festspiele zu erleben.