Ein Ende mit Schrecken – Abschied von der spielzeit’europa

Viel Zeit hat sie dafür nicht, denn schon ab 2013 übernimmt Matthias von Hartz, der seit 2008 das internationale Sommerfestival Hamburgs auf Kampnagel leitet, die Künstlerische Leitung des Festivals.

Die erste spielzeit’europa fand 2004/05 statt unter der Künstlerischen Leitung ihres Gründers Markus Luchsinger. Ziel der Spielzeit war die Präsentation bedeutender Theater- und Tanzproduktionen aus dem europäischen Raum sowie von außereuropäischen Produktionen, in denen die Auseinandersetzung mit Europa thematisiert wurde.

Ab 2006/07 übernahm Brigitte Fürle, ehemals Dramaturgin der Wiener Festwochen, Salzburger Festspiele und des schauspielfrankfurt, die Künstlerische Leitung der spielzeit’europa. In ihrer sechsjährigen Arbeit hat Brigitte Fürle über den Schwerpunkt Europa hinaus in zunehmendem Maß den Dialog mit der Welt in die Programmgestaltung einbezogen. Das Haus der Berliner Festspiele war dabei mehrfach nicht nur Veranstaltungsort für Gastspiele, sondern auch Produktionsstätte, die ideale Arbeitsbedingungen für die Proben von Theater- und Tanzinszenierungen bot. Fürles Anliegen, dem Haus eine, auch nach außen hin sichtbare Identität zu verleihen, zeigte sich in Ausstellungen wie in den Foto- und Videoinstallationen an der Fassade die Hauses, die im Bezug zum Motto der jeweiligen Saison von internationalen KünstlerInnen gestaltet wurden.

Zu den prominenten Gästen, deren Arbeiten in den letzten sechs Jahren im Haus der Berliner Festspiele zu erleben waren, gehörten u.a. Robert Wilson, Robert Lepage, Alvis Hermanis, Heiner Goebbels, Krzysztof Warlikowski, Lemi Ponifasio, Andrea Breth, Peter Sellars, William Forsythe, Stéphane Braunschweig, Sylvie Guillem, Sidi Larbi Cherkaoui, Pina Bausch und Isabelle Huppert.

2009 lockte „Das Wiedersehen von Berlin“ mit den Riesenmarionetten von Royal de Luxe zwei Millionen ZuschauerInnen auf die Straßen Berlins. Trotz oder wegen dieses Erfolgs wurde Brigitte Fürle für diese Veranstaltung auch heftig kritisiert, denn in Deutschland gilt: Marionetten sind Puppen, Puppen sind Kinderspielzeug und daher als Objekte ernsthafter Betrachtung für Erwachsene nicht geeignet. Dass dies anderswo ganz anders beurteilt wird, wurde schon in der spielzeit’europa 2006/07 ersichtlich durch die Produktion „Les Paravants“ in der Inszenierung von Frédéric Fisbach, der das Stück von Jean Genet in einer einzigartigen Kombination von grandiosen SchauspielerInnen mit den Marionetten der Compagnie Youkira, Tokio zur Aufführung gebracht hatte.

Wenn schon innerhalb Europas die künstlerischen Kriterien auseinander klaffen, so macht die Begegnung mit der Welt gelegentlich sprachlos. Die beiden Inszenierungen von Lemi Ponifasio, „Le Savali: Berlin“ und „Birds With Skymirrors“ in der vergangenen Saison erwiesen sich als Herausforderungen für Publikum und Kritik. Erkennbar waren ein Denken und eine Sicht, die der unseren fremd sind. Sich unvoreingenommen darauf einzulassen, bedeutet, Abenteuer zu erleben, die sich den gewohnten Interpretationen entziehen.

„Veränderbare Welten“, das Motto der spielzeit’europa 2011/12, klingt nach Aufbruch und Utopien und lässt an die spielzeit’europa 2007/08 denken, die unter dem Motto „Paradies jetzt“ die traumhaft schöne Inszenierung „Stifters Dinge“ von Heiner Goebbels beinhaltete oder den liebenswert verrückten Traum „The Sound of Silence – ein Konzert von Simon & Garfunkel 1968 in Riga, das nie stattgefunden hat“ kreiert von Alvis Hermanis.

Die Veränderung von Welten kann Positives bewirken, Feindschaften überwinden und sogar die Grenzen von Leben und Tod überschreiten wie in der Inszenierung „Desdemona“ von Peter Sellars, für die Toni Morrison den Text geschrieben hat und in der die grandiose Sängerin und Musikerin Rokia Traoré und die wunderbare Schauspielerin Tina Benko das Schweigen brechen, durch das Gewalt entsteht.

Die Erkenntnis der Veränderbarkeit bedeutet aber auch Verlust von Sicherheit und verursacht Ängste. Die Schwierigkeiten durch die Konfrontation mit bedrohlicher Fremdheit waren vorrangige Themen der Inszenierungen dieser Spielzeit. So setzte sich Lloyd Newson mit dem DV8 Physical Theatre in seiner neuen Produktion „Can We Talk About This?“ mit den Gefahren für Rede- und Pressefreiheit durch religiösen Extremismus auseinander.

Faszinierende Geschichtsbewältigung leistete die polnische Regisseurin Barbara Wysocka, die mit drei grandiosen Schauspielern Heiner Müllers „Wolokolamsker Chaussee“ ebenso überraschend wie überzeugend zur Aufführung brachte.

Großen Erfolg hatte auch Clemens Schick mit seiner Darstellung des namenlosen Fremden in Antonio Latellas Inszenierung „Die Nacht kurz vor den Wäldern“ von Bernard-Marie Koltès. Das Verlorensein und die Einsamkeit in einer nicht mehr verständlichen Welt, die in diesem Stück erschreckend deutlich werden, sind ebenfalls Auslöser für das Böse, das in Arne Lygres Stück „Tage unter“ durch Udo Samel in der Rolle eines selbsternannten Retters verstörend wirksam wird.

Als Abschluss waren bei der facettenreichen spielzeit’europa 2011/12 zwei monumentale Events aus den Bereichen Schauspiel und getanztem Rockkonzert zu erleben.

Die am Burgtheater bejubelte Inszenierung „Zwischenfälle“ von Andrea Breth, die bei der Jury des Theatertreffens für Streitgespräche gesorgt hatte, wurde nun als Deutschlandpremiere von Brigitte Fürle ins Haus der Berliner Festspiele geholt.

Das Stück ist eine Collage aus Texten der Franzosen George Courteline und Pierre Henri Camis, des russischen Avantgardisten Daniil Charms sowie einigen ergänzenden Improvisationen. Zehn SchauspielerInnen schlüpfen in 90 Rollen und gestalten in 30 Szenen eine Welt, die völlig aus den Fugen geraten ist und in der auch die Naturgesetze außer Kraft gesetzt sind.

Andrea Breth und ihr Ensemble bieten absurdes Theater der brillantesten Art. In rasantem Tempo folgen die absurden Ereignisse aufeinander, deren Komik in der naiven Ernsthaftigkeit liegt, mit der sie gestaltet werden.

Elisabeth Orth schwebt in einem Bett über die Bühne und singt „Nachts ging das Telefon“, oder erscheint als nervtötende Anruferin, die mit bedrohlich tiefer Stimme beständig „Hallo“ und „I don’t know“ sagt. Udo Samel beklagt als quirlig hüpfender kleiner Junge den Lebenswandel seines unwürdigen Vaters und kann schließlich, dank naturwissenschaftlicher Kenntnisse, seiner Mutter den verkohlten Vati präsentieren .Michael Rehberg stirbt in seinem Spaghetti-Teller, unbemerkt von Peter Simonischek, der ganz auf seinen unhörbar geflüsterten Monolog konzentriert ist

Es geht um Zwangsvorstellungen, bei denen eine Dame einer anderen in den Hintern beißt, um eine misslungene Hochzeitsnacht, in einem an der Wand hängenden Bett erörtert ein Ehepaar die Frage, ob England eine Insel sei, das Märchen von Rotkäppchen kann nicht erzählt werden, weil dem Wolf die entscheidende Frage nicht gestellt wird, Menschen erschießen sich, Männer warten auf Barbara, Morde geschehen, und ein in den Bahnhof einfahrender Zug verlässt die Gleise und überrollt die auf dem Bahnsteig wartenden Menschen.

Das Bühnenbild von Martin Zehetgruber präsentiert Hotel- und Büroflure und Wände mit riesigen Löchern, die erschreckende Ausblicke gewähren. Die Szenenwechsel geschehen mit atemberaubender Geschwindigkeit wie auch die SchauspielerInnen in Windeseile die eleganten Kostüme von Moidele Bickel wechseln.

Vor der Pause tanzt Markus Meyer mit pathetischem Irrwitz den Frühlingsstimmenwalzer, und am Ende des kurzweiligen dreieinhalbstündigen Abends verabschiedet sich das Ensemble mit innigem Gesang wie bei Christoph Marthaler.

Am Ende der spielzeit’europa wurde es dann sehr laut mit „Political Mother: The Choreographers’s Cut“, Hofesh Shechters Neuinszenierung von „Political Mother“, seinem Erfolgsstück von 2010.

Eine 24- köpfige Band, auf der Bühne in drei Etagen positioniert, bietet Rock, Heavy Metal, Folk und Militärmusik, und das Höllenspektakel wird auch ein paar Mal durch leise Klassikdarbietungen der Streicher unterbrochen. Sechzehn PerformerInnen gestalten tänzerisch Geschichten von Gewalt und Unterdrückung, Ohnmacht und Träumen von Freiheit.

Zu Beginn ist ein ritueller japanischer Selbstmord zu sehen, später werden Gefangene erschossen, und Menschen, ihrer Individualität beraubt, schleppen sich als einförmige Masse dahin.

Dieses Szenario des Schreckens ist musikalisch und choreographisch mit bestechender Brillanz ausgefeilt und offenbart sich als Gesamtkunstwerk von atemberaubender Schönheit.

Gegen Ende erscheint als ironischer Verfemdungseffekt an der Rückwand der Satz: „Where there is pressure there is folkdance“, mit dem sich der in Israel geborene Choreograf auch zu seinen Wurzeln bekennt. Und nach allen Gräueln klingt das Stück hoffnungsvoll aus mit einem leisen Liebeslied.

Das Berliner Publikum feierte dieses Highlight, mit dem sich Brigitte Fürle verabschiedete, mit begeisterten Ovationen.

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