Der Geist des Warschauer Ghettos

Reste der Mauer des Warschauer Ghettos. Quelle: Pixabay, Foto: Kamyq

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Nachstehender Text mit dem Titel „Der Geist des Warschauer Ghettos“, entstammt Kapitel XVI der Autobiographie „Challenging Years“ von Rabbi Stephen Wise, Putnam’s Sons, Newyork 1949, und wurde von Prof. em. Dr. Dr. h.c. Karl-Heinz Kuhlmann aus dem Englischen übersetzt.

…Ich werde nicht versuchen, auf diesen Seiten auch nur eine Zusammenfassung der Eindrücke wiederzugeben, die ich während der Tage in Warschau (1936!) sammelte. Diese Eindrücke waren größtenteils ergreifend und traurig machend, obwohl sie auch ein Gefühl von unbezähmbarer mystischer Hoffnung vermittelten. Ich beschränke mich auf eine unvergessliche Stunde und Szene, die mir viel über den Schrecken und die Größe des Lebens der polnischen Juden erzählte.

Zu den Büroräumen der zionistischen Bewegung kam eine Gruppe von Männern aus Przytyk, einer Stadt die später noch berühmt wurde. Einige aus der Gruppe waren eingesperrt gewesen, einige freigesprochen und einige nur entlassen, aber nicht entlastet. Ihr Fall lag noch bei der Berufungsinstanz. Diese waren keine Bittsteller, noch weniger Klagende, obwohl in ihren anklagenden Reden Bitterkeit mitschwang. Nur wenige Monate zuvor hatte es sechshundert jüdische Familien in Przytyk gegeben und so gelebt, wie jüdische Familien eben größtenteils in kleineren polnischen Städten lebten; d.h. sie lebten in einigermaßen annehmbarer Armut. Es kam ein Tag, an dem diese Menschen fühlten, dass aus der allgemein wachsenden jüdischen Unruhe im Lande heraus, sie angegriffen werden würden. Ein Mitglied der Gruppe sagte mit Feuer in seiner Stimme und natürlich auf jiddisch: „Sie dachten, dass sie mit uns Juden alles machen könnten und dass wir Juden, wie Lämmer unter derHand eines Schlachters ohne Widerstand sterben würden. Aber wir leisteten Widerstand, und einer von ihnen (also ein Pole), der losstürmte, um unsere Frauen und Kinder zu ermorden, fiel.“

Sie erzählten von der unglaublichen Ungerechtigkeit eines quasigerichtlichen Verfahrens, das die Pogrommacher freisprach und die jüdischen Verteidiger ihrer Gemeinde zu Gefängnisstrafen verurteilte. Einer nach dem anderen sprach mit leidenschaftlicher Anspannung, wobei ihre Hauptforderung war, irgendwie eine Milderung der über ihre Verwandten verhängten ungerechten Strafen zu erreichen. Einer sprach besonders für seinen sehr jungen Bruder, der schwer bestraft worden war. Sie bekannten ihr Verbrechen der Selbstverteidigung, einer Selbstverteidigung, die durch einen wilden und mörderischen Angriff provoziert worden war.

Sie baten um mehr. Und die Führer der zionistischen Partei, die mit mir dort saßen, waren nicht weniger tief bewegt als ich. Der zentrale Punkt ihrer Petition lautete: „Wir wollen keinen Gewinn aus unseren Unglück schlagen. Wie sind nicht gleich den Juden, die über Palästina erst dann nachdenken, wenn ihnen mit Vernichtung und Heimatlosigkeit gedroht wird. Wir waren und wir sind, alle von uns, Zionisten. Wir wissen, dass die noch ungefähr fünfhundert Familien unserer Gemeinde nicht nach Palästina gebracht werden können. Wir verdienen es nicht mehr als andere, und wir verstehen, dass wenn es für alle (Ausreise)Bescheinigungen geben würde, dann wäre alles, was die Polen zu tun brauchen würden, um ihre Juden loszuwerden, Pogrome in allen Städten und Dörfern zu beginnen. Wir wissen, dass wir bleiben müssen, wo wir sind, obwohl wir nicht wissen, wie wir über den Winter kommen sollen. Die Polizei tritt schon den Bauern entgegen, die, wenn sie könnten, den Hungrigen unter uns Essen bringen würden.

„Aber“- und hier lag das Herz ihres Hilferufes – „wir sind keine Zwangsjuden, wie einige andere Juden“, und sie bezeichneten sie nach den Wohngebieten. „Wenn wir in Palästina leben würden, dann würden wir uns selbst verteidigen. Wir sind bereit, für das jüdische Land zu sterben und für die jüdische Ehre zu leiden. Laßt einige von uns gehen.“ Dann nannten sie eine Zahl und sofort nannte ein anderer eine geringere Zahl. „Wenn auch nur so wenige“ – und es wurde eine höchst bescheidene Zahl genannt – „wir fühlen, dass unser Leben uns nicht so viel gilt, und wenn wir sterben, dann wird es für das Land ISRAEL sein.“ Mit tränenerstickter Stimme fragte ich: „Wie lange habt ihr in Przytyk gelebt?“ Schnell kam die Antwort: „Es gibt Steine auf unserem Friedhof, die sind sechshundert Jahre alt.“ Zwei Dinge waren klar: Erstens die tragische Demut der Juden, die ihre Geschichte von Jahrhunderten nach Grabsteinen datierten. Und zweitens: Diese moralische Größe, welche, mit der Geduld ihres ewigen Glaubens, „Ich werde nicht sterben, sondern leben“ die Werke Gottes wieder in seinem Land zu erzählen plant.

Während ich in Warschau war entdeckte ich, dass es die Anfänge einer Selbstverteidigungsbewegung, natürlich im Untergrund, gab. Und das Schönste von allem, dass sie ein Zweig der palästinensischen Selbstverteidigung war. Diese Anfänge der Selbstverteidigung waren dazu bestimmt, mächtige und ruhmreiche Konsequenzen in der jüdischen Partisanenbewegung Polens zu haben, die dann ihren Höhepunkt in der Tragödie und dem Ruhm der Zerstörung Warschaus fanden. Die Verteidiger Warschaus, die gegen die nationalsozialistische standen Übermacht haben ihren Platz neben den makkabäischen Verteidigern Judeas, und nahmen die heroischen Leistungen der palästinensischen Haganah vorweg.

Ich muß noch vom tiefsten Eindruck , den die Juden Polens auf mich machten, erzählen. Zum ersten Mal sah ich selbst etwas von der sagenhaften Frömmigkeit und der unsäglichen Armut der meisten Juden. Ich hatte ja schon viele schmerzliche Einblicke in das New Yorker Ghetto vor vierzig bis fünfzig Jahre zuvor, als die Lebensumstände am niedrigsten waren. Ich habe etwas gesehen von den überfüllten, von Armut geplagten Ghettos in den großen Städten anderer Länder. Aber nichts, das ich vorher gesehen oder gewusst hatte, warf ein Licht auf das Leben in Warschau und ihre ärmsten Bewohner. Ich ging tiefer hinein und man zeigte mir Kellerwohnungen, die unvorstellbar dunkelsten unterirdischen Löcher. Viele von diesen waren von großen Familien bewohnt und manchmal auch von zwei Familiengruppen, die sie tags- und nachtsüber wechselnd belegten. Indem ich meine Fragen so schüchtern wie nur möglich stellte, erfuhr ich, dass manche dieser Familien von fünfzehn bis zwanzig Zloty in der Woche lebten, was drei bis vier Dollar entspricht.

Vielleicht sollte ich mich schämen, die Geschichte von einem elenden, hungrig aussehenden Familienoberhaupt, dem ich mich zuwandte, zu erzählen. Ich fragte ihn: „Wie kann man man so wenig auskommen?“ Schnell wie ein Blitz und so zuversichtlich kam die Antwort auf Jiddisch: „Gott wird schon helfen.“ Keine Klage, kein Jammern, keine Bitterkeit! Allein die Aussage eines unerschütterlichen Glaubens: Gott wird schon helfen. Das war nicht die Resignation eines dumpfen Frömmigkeit. Sie verkörperte den vollen und unerschütterlichen Glauben wie auch die Annahme der fürchterlichsten Trübsale des Körper und des Geistes als Ausdruck des göttlichen Willens und Zieles. Ich fühlte, dass ich auf die Verkörperung des Geistes der Frömmigkeit des Judentums gestoßen war, auf die Frömmigkeit eines nicht klagenden Märtyrertums, die Annahme eines solchen Märtyrertums als einer Phase des Lebenskampfes. Wie blaß und dünn und blutleer und veräußerlicht erscheint dagegen das religiöse Leben der Habenden, der Besitzenden, die ich alle in meinen Tagen kennengelernt habe.

Ich werde nie aufhören, demütig dankbar zu sein für die Offenbarung, die Polen, d.h. die das polnische Judentum mir von der Innerlichkeit des jüdischen Glaubens und Lebens gewährt hat. Ich füge das Leben hinzu, weil außer einigen wenigen abweichenden Assimilierten diese polnischen Juden eins waren in ihrem Elend, in ihrem Leiden, in ihrem Heroismus, im Reichtum und Adel ihres Glaubens. Indem ich einen Blick davon erhalten habe, war ich nicht überrascht von der Verteidigung dieser Stadt Jahre später, tapfer und wundersam verlängert. Auch nicht vom Mut der nur halbbewaffneten jüdischen Partisanen gegen die stolzesten Armeen Europas! Mein Besuch in Polen war mehr als eine schicksalhafte Episode. Er war einer meiner mich am meisten bereichernden Erfahrungen aller meiner Tage.

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