Streitfragen sollen private Schiedsgerichte entscheiden, die im Gegensatz zu staatlichen Gerichten nicht einem wie auch immer gearteten Gemeinwohl, sondern den Interessen ihrer Auftraggeber verpflichtet sind. Vor ihnen könnten Unternehmen aus den USA gegen die Regierungen für ihren Zugang zum europäischen Binnenmarkt oder gegen staatliche oder staatlich geförderte Unternehmen und Projekte in Forschung, Produktion und Dienstleistungen Klage führen. Besonders in der öffentlichen Daseinsvorsorge – öffentlicher Dienst, Gesundheit, Kultur, Infrastruktur, Öffentlicher Personen-Nahverkehr, öffentlicher Rundfunk usw. – könnten amerikanische Uhnternehmen die bestehenden Strukturen in Frage stellen, weil sie nach amerikanischen Gepflogenheiten »den freien Wettbewerb verzerren«. Konkret wären in Deutschland zum Beispiel die Buchpreisbindung, die öffentliche Kulturförderung und der öffentlich-rechtliche Rundfunk, der bekanntlich aus Gebühren finanziert wird, betroffen.
Aktionstag gegen TTIP – Notbremse ohne garantierten Stopp – Der Widerstand der Kulturschaffenden droht ohne breiteres Bündnis ins Leere zu gehen
Die Deutsche Orchestervereinigung (DOV) verweist darauf, dass zum Beispiel die deutschen Kultur- und Opernorchester, aber auch Theater, mit staatlichen und kommunalen Mitteln ganz oder teilweise subventioniert werden. Die Orchester der USA sind in der Regel privat finanziert. Ein US-Orchester könnte gegen die Förderung eines kommunalen Orchesters klagen, weil es sich am freien Marktzugang behindert sieht. Ähnlich verhält es sich mit öffentlichen Musikschulen und Hochschulen oder mit den gebührenfinanzierten Rundfunkorchestern und -chören. Vergegenwärtigt man sich, dass in Deutschland Bund, Länder und Gemeinden die Kulturinstitute jährlich mit neun Milliarden Euro fördern, könnte dieses System zusammenbrechen, wenn US-Konkurrenten ernsthaft auf den freien Wettbewerb pochten. Sie hätten die Kraft, den Kulturbetrieb in der EU und in Deutschland aufzumischen. Da würde der vermeintlich besondere Schutz für die deutsche Theater- und Orchesterlandschaft als immaterielles Kulturerbe auf der Liste der deutschen UNESCO-Kommission nicht viel helfen oder zumindest schweren Schaden nehmen. Nicht zufällig sind die USA der UNESCO-Konvention zum Schutze der kulturellen Vielfalt nicht beigetreten.
Gegen die Gefährdung der kulturellen Vielfalt hat die DOV mit 130 Musikern am 4. Mai in Mainz eine künstlerische Performance unter der Losung »Wir sind keine Ware« organisiert. Die Delegierten von 140 Orchestern forderten in einer Resolution, die Kultur aus dem TTIP auszuschließen.
Die DOV und der Deutsche Kulturrat rufen dazu auf, den internationalen Tag der kulturellen Vielfalt am Donnerstag (21. Mai) zum Aktionstag »Kultur braucht kein TTIP« zu machen. Künstler, Kultureinrichtungen und –organisationen sollen sich beteiligen, um »Politik und Öffentlichkeit auf die Gefahren des TTIP für den Kulturbereich aufmerksam zu machen«. Vor dem Brandenburger Tor in Berlin werden Musiker und Sänger aus zehn Nationen zwischen 15 und 18.30 Uhr ihre Stimme gegen TTIP erheben. Jeder Bürger kann hier die Europäische Bürgerinitiative gegen TTIP und CETA mit seiner Unterschrift unterstützen. Der Deutsche Kulturrat will in Berlin eine Konferenz und eine Podiumsdiskussion mit Prominenten über das TTIP veranstalten.
Die Einschränkung des Themas auf die Kultur lässt jedoch die Schlagkraft des Tages gegen TTIP bezweifeln. Widerstand ist überfällig, aber er darf sich nicht auf Forderungen nach mehr Information, Transparenz und kritischer Auseinandersetzung (von oder mit etwas Unvermeidlichem) beschränken. Auch die völlige Herausnahme der Kultur aus dem Abkommen wäre eine Nummer zu klein. Es geht nicht darum, dass die Kultur das TTIP nicht braucht (andere vielleicht?), sondern dass das Abkommen verhindert werden muss, weil es die Kultur und nicht nur die Kultur schwer schädigen wird. Das TTIP als Ganzes gefährdet entscheidende soziale Standards in den EU-Ländern, denn die USA und ihre Konzerne könnten zum Beispiel die Ein- oder Durchführung des Mindestlohns oder Regelungen des Arbeits- und Kündigungsschutzes als Wettbewerbsverzerrung angreifen oder die Schließung öffentlicher Krankenhäuser fordern, durch andere Normen die Behandlungsqualität und den Patientenschutz beeinträchtigen und allgemein den Lebensstandard in der EU drücken. Aus gutem Grund fordern Gewerkschaften und Sozialverbände, die Abkommen CETA und TTIP überhaupt nicht abzuschließen.
Deshalb sollte der Deutsche Kulturrat auf dem Aktionstag das Bündnis mit Gewerkschaften, die das Abkommen ablehnen, oder mit Der Linken als Gegnerin des TTIP suchen. Sein Geschäftsführer, Olaf Zimmermann, tut sich etwas darauf zugute, den Präsidenten des Verbands der Automobilindustrie, Matthias Wissmann, einen Verfechter des Abkommens, für das Podium gewonnen zu haben. Aber als Antipoden für ein »Streitgespräch« fehlen zum Beispiel Wortführer von Ver.di, der IG Metall und Der Linken, um den Künstlern in ihrem Widerstand den Rücken zu stärken. Mit Halbheiten droht der Protest gegen das TTIP im Sande zu verlaufen.