Berlin, Deutschland (Weltexpress). „Die Verhandlungen sind gescheitert“. Schlagzeilen in dieser Tonart füllten die ukrainischen Medien nach dem Besuch von Wladimir Selenski in Deutschland. Es ist offensichtlich, dass es Kiew nicht nur nicht gelungen ist, Berlin dazu zu bewegen, seine Haltung gegenüber Nord Stream 2 zu revidieren – was von Anfang an unrealistisch erschien -, sondern es hat noch nicht einmal Garantien für eine reale Entschädigung der Ukraine nach dem Start der Pipeline erhalten.
Doch Nord Stream und die Situation im Donbass waren nicht die einzigen Themen des Treffens von Merkel und Selenski. Nach durchgesickerten Informationen aus Verhandlungskreisen ist die EU ernsthaft besorgt über die Unsicherheit von Investitionen in der Ukraine und fordert sofortige Maßnahmen, um Missstände zu beheben.
Eines der einflussreichsten ukrainischen Wirtschaftsportale schildert im Artikel „Konkurs und Liquidierung – Ist das WOG-Projekt beendet?“ am Beispiel einer GmbH, welchen Problemen Investoren in der Ukraine begegnen können. Der Fall ist bezeichnend, denn fast zum ersten Mal in der Geschichte des Landes könnten die Endbegünstigten eines mächtigen finanzindustriellen Konzerns wegen vorsätzlichen Bankrotts strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.
Die Rede ist von WOG Retail. Am 8. Juni 2021 erklärte das Gericht die WOG Retail GmbH für insolvent und eröffnete ein Liquidationsverfahren (Fall #903/15/21).
Einige Monate früher, im April, hatte das Gericht die Forderungen einer Reihe von Gläubigern gegenüber der WOG Retail GmbH anerkannt. Es handelt sich um die Finanzgesellschaft Finance Union GmbH (in Höhe von 1,1 Mrd. ukrainischer Griwna – Iso-Code UAH), ferner um die West Petrol Market GmbH (718,4 Mio. UAH), die WOG Trade Resources GmbH (112 Mio. UAH), die Neftetrade Resources GmbH (59,4 Mio. UAH), die WOG Card GmbH (16 Mio. UAH), die WOG Retail GmbH (15 Mio. UAH), die Finexpert GmbH (5,5 Mio. UAH) und die Lithoil GmbH (4,1 Mio. UAH).
Externe Gläubiger und Finanzbehörden drohen leer auszugehen
Recherchen in den Handelsregistern ergeben, dass die Geschäftsführung dieser Unternehmen mutmaßlich in den Händen von Personen liegt, die der Geschäftsführung des Hauptunternehmens nahestehen. Ein solcher organisatorischer Ansatz kann dem Gläubigerausschuss „helfen“, passende Entscheidungen zu treffen.
Außerdem hat das Gericht Forderungen der Steuerbehörden in neun Regionen der Ukraine in Höhe von insgesamt 210 Mio. Griwna anerkannt. Dies beweist, dass es die staatlichen Behörden sind, die in der Regel am meisten vom Konkurs der Großunternehmen betroffen sind.
Neben den oben genannten Gläubigern werden auch die Gläubigerbanken, die die Tankstellen der WOG verpfändet haben, ihre Forderungen im Rahmen des Insolvenzverfahrens anmelden.
Das Insolvenzverfahren über die WOG Retail wurde am 28.01.2021 eröffnet. Gleichzeitig wurden die Forderungen in Höhe von 168,9 Mio. Griwna des initiierenden Gläubigers TV Sad GmbH anerkannt. Die Presse brachte dieses Unternehmen mit T. B. Fruit in Verbindung. Diese stehe im Besitz des Geschäftsmannes Taras Barschowski.
Das staatliche Register listet die West Oil Group Holding (Niederlande) und die Dukat GmbH als Gründer der WOG Retail GmbH auf, während die Endbegünstigten Stepan Iwachiw, Sergei Lagur und Roman und Sofia sind, die Kinder des verstorbenen Abgeordneten Igor Jeremejew. Diese Personen sind Eigentümer der Kontinuum-Gruppe, zu deren Vermögenswerten auch das WOG-Tankstellennetz gehört.
Obwohl es offiziell noch die Ehefrau des ums Leben gekommenen Jeremejew gibt, der Anteile zukommen, stellt sich die Sache so dar, dass der Finanzmogul Igor Kolomojskyj derjenige ist, der diese unter seine Fittiche genommen hat und damit einige der entscheidenden Stimmen kontrolliert. Damit kann er auch die Beschlüsse unmittelbar kontrollieren. WOG hat bereits 2019 die Benzinimporte um 33 Prozent reduziert und den Anteil der Produkte aus dem Unternehmensnetz des Oligarchen nach einem „überzeugenden“ Gespräch mit Kolomojskyj auf mindestens 20 Prozent gebracht.
Wie Firtasch über den Wert von WGO getäuscht wurde
Es gibt eine weitere Geschichte über das bereits erwähnte „Kontinuum“, die die Beziehungen zu zahlreichen Gläubigern betrifft. Zu diesen gehörte der Geschäftsmann Dmitri Firtasch. Firtaschs Beziehung zu dieser Gruppe geht auf die Übernahme der Nadra Bank zurück, die sich im Besitz der Begünstigten von Kontinuum befand. Nadra, eine der ersten systemrelevanten Banken, die zu den fünf größten des Landes gehörte, konnte schließlich ihren Verpflichtungen nicht nachkommen, da ihre Konten nicht ausreichend gedeckt waren.
Medienberichten zufolge entdeckte Firtasch als frischgebackener Eigentümer von Nadra während einer Konkursuntersuchung, dass Gelder der Bank in Milliardenhöhe zugunsten der Begünstigten von Kontinuum und dessen Unternehmen abgezogen worden waren.
Danach verlangte der Geschäftsmann die Rückgabe der abgehobenen Gelder, doch schließlich einigten sich die Parteien: Ein Teil der Nadra-Schulden wird in Aktien der WOG umgewandelt, und Firtasch finanziert den Bau weiterer Tankstellen für das WOG-Tankstellennetz. Die Geschichte endete jedoch traurig für den Geschäftsmann: Firtasch stellte Mittel in Höhe von 460 Millionen Dollar zur Verfügung, bekam aber die WOG-Aktien nicht zu Gesicht.
Schaut man sich die Geschichte von Kontinuum an, so stellt man fest, dass die Projekte, an denen das Unternehmen beteiligt war, „kontinuierlich“ Konkursverfahren angemeldet haben. Man erinnere sich an die Worte des Eigentümers des OKKO-Netzes (ein weiterer Monopolist auf dem ukrainischen Markt für Ölprodukte), Witali Antonow: „WOG ist nicht nur wertlos, es kostet ‚minus‘.“
Dies kann durch einfache Berechnungen bestätigt werden: WOG gehören 400 Tankstellen. Der durchschnittliche Wert einer Tankstelle beträgt 1,8 Millionen Dollar. Allein gegenüber Banken beträgt die Gesamtverschuldung des Unternehmens – Lieferanten von Produkten, Treib- und Schmierstoffen, Steuern und Abgaben nicht einmal hinzugerechnet – etwa 880 Millionen US-Dollar. Hinzu kommen die Schulden bei Firtasch in Höhe von ca. 460 Millionen Dollar. Rechnen wir die Vermögenswerte in Höhe von 720 Mio. USD gegen 1,34 Mrd. USD Schulden, ergibt das in trockener Substanz ein Minus von etwa 640 Millionen USD. Also hatte Antonow recht.
Durch welche Schemata werden Unternehmen in die Insolvenz getrieben?
Ein Unternehmen wird durch eine Reihe von internen Entscheidungen in den Konkurs getrieben. In der Regel fängt es mit unrentablen Geschäften an, die auf den systematischen Nutzen eines Dritten zum Nachteil des Schuldners und seiner Gläubiger ausgerichtet sind.
Auf diese Weise werden Mittel aus dem Unternehmen geschwemmt – zugunsten anderer von ihm kontrollierter Unternehmen oder einfach durch Bargeld-Auszahlung – und Vermögenswerte auf andere Unternehmen des Eigentümers übertragen. Gleichzeitig werden Schulden zu Gunsten verbundener Strukturen angehäuft, was es den Interessenten in Zukunft ermöglicht, den Konkurs zu kontrollieren, weil sie „ihre“ Leute im Gläubigerausschuss haben. Im Ergebnis stehen die externen Gläubiger im Konkursverfahren allein da, Staatsbetriebe wie Krankenhäuser, Schulen und die Armee erhalten weniger Geld und das Unternehmen wird seinen Schulden-„Ballast“ los, registriert aber andere juristische Person und setzt seine Aktivitäten unbehelligt fort.
Im Falle von WOG ist die Situation nun etwas anders: Das Wichtigste ist, dass das Gericht bereits das Liquidationsverfahren der insolventen Firma WOG Retail eingeleitet und einen Liquidator bestellt hat. Nun muss dieser innerhalb von 12 Monaten eine Liste mit Forderungen der Gläubiger aufstellen, um die Liquidationsmasse zu bilden. Als nächstes müsste er prüfen, ob die WOG von ihren Eigentümern oder mit ihnen verbundenen Unternehmen vorsätzlich in den Konkurs getrieben wurde.
Die Hauptfrage ist aber, ob der Liquidator unabhängig genug ist, um eine tiefere Analyse zu gewährleisten und die substanziellen Gegebenheiten zu durchleuchten. Das setzt allerdings eine Prise Mut voraus, denn bislang konnten solche Schemata problemlos funktionieren. Es würde aber reichen, die Existenz von Verbindungen zwischen den Unternehmen (nämlich bestimmter Gläubiger und Unternehmen des Kontinuum-Konzerns) nachzuweisen. Zu Tatsachen, die einen Anscheinsbeweis für diese Annahme bieten, könnten das Vorhandensein von Verbindungen oder Arbeitsbeziehungen zwischen bestimmten Mitarbeitern, die Abwicklung von Geschäften unter der gleichen Büroadresse, gleichen Kontaktdaten (Telefonnummern, E-Mails) und vieles mehr zählen.
„Die Ukraine ist offen für die Welt als ein Investitionshafen in einer Zeit des Wandels.“ Mit solchen Sätzen wird Präsident Wladimir Selenski nicht müde, bei ausländischen Investoren zu werben. Das mag zum Teil sogar stimmen. Aber in westlichen Staaten werden fragwürdige Insolvenzverfahren aufmerksam verfolgt, so dass auch der Fall von WOG für sie vom großen Interesse ist. Für die Behörden ist es eine ernsthafte Herausforderung und gleichzeitig eine einmalige Gelegenheit, ihr Rating zu verbessern.
Diese Woche traf sich Angela Merkel mit US-Präsident Joe Biden in Washington. Bald wird wohl bekannt sein, ob die Informationen über die „wundersamen“ ukrainischen Geschäfte auch Übersee erreicht haben…