London, UK (Weltexpress). Ein Bekannter zu Brexit: Die Briten hatten Kopfschmerzen. Dann schossen sie sich in den Fuß. Jetzt haben sie immer noch Kopfschmerzen, können aber nicht mehr gehen. Die alten Probleme sind geblieben – sie haben sich lediglich verlagert, und neue sind dazugekommen. Neu ist das Aufkommen eines englischen Nationalismus, der den britischen Hurra-Patriotismus überlagert und auf die anderen, etablierteren Nationalismen prallt – den der Iren, Schotten und der Waliser. Während die Europäer diese mit Verständnis, ja Sympathie beobachten, stößt der englische Nationalismus allgemein als eher unsympathisch auf. Man denkt dabei an Biergläser und rot-weiße englische Flaggen schwenkende Hooligans. Nicht umsonst, und keineswegs erst seit gestern ist der Ausdruck „Little Englander“ (etwa: kleinkarierter, xenophober englischer Lokalpatriot) auch in England selbst ein Schimpfwort.
Der schottische Autor Gavin Esler schreibt in seinem neuen Buch „How Britain Ends“: „Ohne sich selbst neu zu erfinden und zu reformieren könnte das Vereinigte Königreich, so wie wir es zu kennen glauben, bald aufhören zu existieren“. Großbritannien überlebte Napoleon, Hitler und Stalin. Die letzte erfolgreiche Invasion der britischen Inseln liegt ein paar Jahre weiter zurück: 1066. Das ist der Fels, auf dem das britische Selbstbewusstsein ruht – will heißen: das englische. Denn während die nordirischen Protestanten sich als britische Hyper-Patrioten gerieren, trifft dies für die Schotten kaum zu: sie sind in erster Linie Schotten. Und stärkste Triebkraft hinter Brexit war nicht der britische, sondern der englische Nationalismus. Der schottische Schriftsteller Ludovic Kennedy charakterisiert die schottisch-englische Beziehung als „love-making“ mit einem Elefanten. Nach Brexit machte ein neuer Witz die Runde: Ein Engländer, ein Schotte und ein Ire sind im Pub. Der Engländer will nach Hause. Also müssen alle gehen.
Brexit mit der neuen Zollgrenze in der Irish Sea hat Nordirland von Großbritannien gleichsam abgekoppelt. Die von den Irischen Nationalisten erträumte und blutig umkämpfte Wiedervereinigung Irlands ist nun plötzlich in greifbare Nähe gerückt – trotz Boris Johnsons kühnen Projekts eines 25 Meilen langen Unterwasser-Tunnels zwischen Schottland und Ulster. Die schottischen Nationalisten haben im Parlament zu Edinburgh die überwältigende Mehrheit und werden diese in den Wahlen im Mai weiter ausbauen. 52 Prozent der Schotten wollen inzwischen die Unabhängigkeit – bei der jüngeren Generation sind dies gar 67 Prozent. Ein neues Referendum, das Premier Johnson verhindern will, aber vermutlich nicht kann, würde auf ein Votum für ein unabhängiges Schottland hinauslaufen. Und England bliebe mit seinem Nationalismus allein auf der Strecke.
Anmerkung:
Vorstehender Artikel von Dr. Charles E. Ritterband wurde am Donnerstag, 18.2.2021, in „Vorarlberger Nachrichten“ erstveröffentlicht.