Sie selbst hatte, als sie feststellte, dass er keinen Zugang zu Frauen hatte, ihn ständig aufgefordert, mit dem Mädchen etwas anzufangen. Das brachte ihn noch mehr in die Bredouille. Seine grundlegende Erfahrung und somit sein Weltbild war nämlich, dass er als Mann den Frauen Schmerz und Leid zufüge. Dazu stand im krassen Missverhältnis, das er jetzt auf Frauen zugehen solle, und er war vermehrt völlig überfordert.
Fangen wir zuerst mit dem Vater an. Er war ein zwanghafter Mann, der trotz Beschwerden vor der Klasse stand und die Zähne zusammen biss. Er führte ständig Sätze im Mund wie "man darf sich nicht gehen lassen, reiß’ dich zusammen, dass ist unvernünftig“ bis zu dem Satz „er dürfe kein Traumtänzer sein und im Wolkenkuckucksheim leben". So durfte sein Sohn nicht sein – ein Schreckgespenst. Der Vater hatte als 25-jährige Lehrer mit der 17-jährigen Schülerin in einem Durchbruch von Protest und Selbstverwirklichung ein Kind gezeugt, und der Sohn war sozusagen die lebende Schande, zu dessen Wiedergutmachung er sich verpflichtet sah und verpflichtet wurde. So wurde sein Leben zur Pflicht, die er dem Sohn auch zur Pflicht machte, ihm keine Schande zu bereiten. Auch seine Aufgabe im Natur- und Vogelschutz als Vorsitzender des Vereins war für ihn eine Pflicht. Böse Zungen würden darin sehen und deuten, er hatte es mit den/dem Vögeln.
Die Mutter hätte sich, hätte er anders gehandelt, von ihm im Stich gelassen gefühlt. Sie wäre jedoch, ebenso wie er selbst, in ihrem tradierten Weltbild ge- und verfangen gewesen, in dem sie einerseits von der Richtigkeit ihrer Verhaltensweisen überzeugt gewesen war, andererseits unter ewigen Schuldgefühlen gelitten hatte.
Anlässlich einer Krankschreibung ging er im Park spazieren, schaute Boulespielern zu und dabei tauchten bei ihm längst verschüttete angenehme Kindheitserinnerungen auf, angenehme Frühlingsgefühle, die ihm Hoffnung machten und ihn bestärkten, während er sonst unter einem Druck gestanden hatte, der zu den Verkrampfungen geführt hatte. Er kam selbst auf die Idee, ob er nicht die Mutter mit seinem Leben, so wie er es führte, im Stich ließe. Würde er ihr nicht, wenn er ein Leben frei von Normen und Regeln oder besser selbst gesetzten Regeln, ein Vorbild sein und zu ihrer Befreiung und Emanzipation beitragen? Dann hätte er sie vorher im Stich gelassen, als er getreu ihren ausgesprochenen Erwartungen und ihrer Schmerzen selber ein schmerzerfülltes Leben im Leid führte. Seine Mutter hatte unter seinem Leid gelitten, und er unter ihrem, und damit war er ihr inniglich verbunden. Er deutete sogar sein Leid als Rache an der Mutter auf eine selbstschädigende, masochistische Weise. Wir sprachen sogar davon „das Imperium schlägt zurück“, da jeder Mensch entsprechend seinen verinnerlichten Erfahrungen sich verhält.
Als er wieder arbeiten ging, baute sich in ihm der Druck auf, den Anforderungen zu genügen, da in ihm das Böse, Schlechte steckte, ein Schreckgespenst, das bisher sein ganzes Leben bestimmt hatte und vor dem er Angst hatte. Auf meine Bemerkung hin, dass er sich nicht sieht, ausschließlich die anderen, und seine eigenen Anforderungen und Ansprüche an die anderen nicht sieht. Das setzt ein gehöriges Maß an Selbstakzeptanz voraus, indem ich mir sage, ich bin auch wer, ein jemand, der Rechte hat, genau wie die anderen. Er antwortet, er sehe sich nicht, sei nicht präsent, aber es könne schon sein, dass darin seine Wünsche und Anforderungen stecken, und dann verknüpfe er das mit dem Bösen. Wünsche überhaupt zu haben, sei das Böse.
Als Kind konnte er nicht verstehen, warum die Eltern so handelten. Jetzt kann er es. Alice Miller schrieb ein Buch „Du sollst nicht merken“. Das Merken und Wahrnehmen ist verboten, und wird von den Eltern streng bestraft In der biblischen Schöpfungsgeschichte ist in einer Parabel für die herkömmliche Familie das Pflücken eines Apfels vom Baume vom Baume der Erkenntnis frevelhafte Gottgleichheit und wird mit der der Erbsünde über Generationen hinweg bestraft. Bei den Mohammedanern führt Interessenwahrnehmung evtl. zum Ehrenmord.
Das Nichtverstehen hat eine eigene Qualität. Die Eltern nicht erkennen, hält ihn in dem Zustand und schafft eine ewige Angst vor dem Verstehen und trägt somit zu den Verkrampfungen bei. Er soll da bleiben, indem er sich selbst unbekannt bleibt und ein ewiges Rätsel ist. In der Pubertät wurde das noch verstärkt durch das Erwachen der Sexualität. Ein zusätzliches Böses kam in ihn herein und zwar grundlegend und automatisiert. Auch erwachte in ihm ein Neid und Missgunst auf andere, Schulkameraden, denen es soviel besser ging, die mit den Mädchen rummachten, während er selbst nicht konnte. Vor allem erwachte ein Neid auf die Mutter, der zuliebe er ihr all Wünsche erfüllte und sich selbst nichts gönnen konnte. Das sei wie ein Böser Geist, ihnen darf es nicht gut gehen, wenn es ihm selbst nicht gut geht, ein aus Schmerzen und Leid geborener Vernichtungswille. Der Neid und der Vernichtungswille waren aber blockiert, da er Neid und Missgunst nicht merken darf, und wenden sich gegen ihn selbst, werden zur Autoaggression. Außerdem wolle er wiederum nicht merken, wie existentiell er eingeschränkt ist. Dadurch fehlen große Teile in der Wahrnehmung. Weil er nicht merken und wahrnehmen konnte, konnte er auch nicht rebellieren, denn das setzt schon ein gehöriges Maß an Selbst- und Fremdwahrnehmung voraus.
Ein Gedanke tauchte in ihm auf. Wenn jeder in einem Erwachen so leben wollte, wie er wollte oder nach selbst gesetzten Regeln, sich selbst verwirklichte, das gäbe ja das reinste Chaos, da ginge es drunter und drüber. Wenn er früher kein Vorbild gewesen wäre, das hätte er nicht verstanden, das hätte nicht in sein Weltbild gepasst. Es wäre auch negativ bewertet worden, etwa mit Egoismus oder Rücksichtslosigkeit. Schließlich musste er zustimmen, positiv sein, durfte nicht egoistisch sein. Das sei seine Pflicht. Diese Pflicht galt anderen gegenüber als Verantwortung für andere. Die Selbstverpflichtung und Selbstverantwortung sah er nicht.
So pendelte er zwischen einem Frühlingserwachen und einem tiefen Stecken in einer Nichtselbstwahrnehmung und Ängsten und Verkrampfungen hin und her. Sein Leben hätte sich so fortgesetzt. Aber der Gedanke mit einer Selbstwahrnehmung durch das eigene Vorbild auch der Mutter in ihrem Leid zu helfen, sowohl von ihrem transgenerationell vererbten Leid als auch von dem Leide durch ihn, seine masochistischen und gleichzeitig sadistischen Tendenzen, ließ ihn nicht los. Schließlich wollen alle Mütter, dass es ihren Kindern gut geht und dann geht es ihnen gut, wenn sie sich nicht in Neid und Missgunst verzehren und das Leben ihrer Kinder kaputt machen. Die Ambivalenz der Mutter trifft auf seine eigene Ambivalenz.
Die meisten Menschen erwarten die Hilfe und Erlösung von außen. Das Maß an Selbstzufriedenheit und Selbstakzeptanz hängt von den äußeren Bedingungen und den Mitmenschen ab. Religionen und Märchen erzählen darüber. Nur an Religionen wird geglaubt und Märchen sind Märchen, wenn sie auch die mit- und zwischenmenschlichen Verhältnisse in einer Parabel, einem Gleichnis exakt darstellen. Auch lebt der Mensch im Vergleich, wenn es einem Menschen gut geht, darf es dem anderen nicht schlecht gehen und umgekehrt. Andererseits lebt die Werbung davon und ist deshalb so faszinierend, dass einer oder eine Gruppe hervorstechen. Da zeigt sich die Widersprüchlichkeit des Menschen.
Seine Hilfe kommt von innen, seiner inneren Argumentation, die er sich in seinem Kopf mit der gesamtem Palette von Gefühlen und Befindlichkeiten klar machen muß. Und zwar tiefergehend klar, nicht nur auf einer rationellen Ebene. Seine Überzeugungen müssen sich ändern, was sein gesamtes Weltbild infrage stellt. Ich kann nur Anstoß und Hilfe zur Selbsthilfe sein. Wenn er mit seinen Argumenten seiner Mutter gegenüber tritt, wird sie voraussichtlich mit den alten Argumenten kommen, und er sich leicht überzeugen lassen, da für die alten Überzeugungen der Boden vorbereitet ist. Er wird mit Schuldgefühlen reagieren. Diese Erfahrungen muß er machen. Ob seine Mutter so offen ist und sich überzeugen lässt, ist fraglich. Aber in diesem Prozeß selbst hat er sich in ihrem Angesicht verändert. Dabei helfen positive Erinnerungen an die Kindheit.