Die Zeitschrift „Stern“ suchte für einen Artikel über Depressionen mühsam nach Leuten, die sich bekennen, und fand in allen Gesellschaftsschichten nur wenige, unter anderem Sven Hannawald, der bekannt dafür war „ich mach’ halt meinen Kram“ , und so seinen Leistungsdruck zu mindern suchte. Die Angst vor der Stigmatisierung ist zu groß. Alle anderen hatten Angst sich zu outen. Selbst Andreas Biermann rät einem Fußballer ab, obwohl ihm persönlich das Bekennen gut getan hat, aber seiner Fußballerkarriere nicht. Karriere, Erfolg, Geld, Ruhm und Status sind die Marschroute und Kriterien unserer Leistungsgesellschaft, werden zum Altar erhoben und diejenigen, denen dies nicht gelingt wie den meisten Fans, wollen wenigstens den Erfolgreichen zujubeln, Brosamen abbekommen, mit ihnen ihr eigenes Unglück übertünchen und sich mit ihnen identifizieren. Der Erfolg ihrer Idole ist ihr eigener Erfolg. Im Profisport, aber nicht allein dort, gilt für viele allein die Leistung und der Erfolg und zwar geradlinig nach oben, ganz im Gegensatz zum wahren Leben, wo es auf und ab und hin und her geht – also eine Scheinwelt, für die viel Geld ausgegeben und die Menschlichkeit geopfert wird.
Jeder Psychoanalytiker, aber auch andere besonnene Leute, wissen: Die Stigmatisierung von Schwäche und psychischer Krankheit hat mit der eigenen Schwäche des Stigmatisierenden zu tun, die dadurch abgewehrt und delegiert wird, ebenso wie bei der Homophobie eigene homosexuelle Tendenzen abgewehrt werden. Der Grad der Außenverurteilung hängt vom inneren Maß der Selbstverurteilung ab. Viele Fußballfans sind gerade gegenüber Homosexuellen unerbittlich, der Ruf „Du schwule Sau“, so dass sich kaum ein Fußballer zu outen wagt. Nur die hohe Politik schwebt darüber, dort schadet das Outen weder einem Herrn Westerwelle, noch einem Herrn Wowereit. Im Gegenteil, sie werden dadurch eher beliebter, da in ihnen der Mut gesehen wird, der anderen Teilen der Gesellschaft völlig fehlt.
Als psychoanalytisch tätiger Arzt mache ich mir natürlich Gedanken über die Hintergründe und Zusammenhänge von Depression und Erfolgsgesellschaft. Sie passen in meinen Augen wie Schloss und Schlüssel zusammen. Die Depression ist nach den Angstkrankheiten und somatoformen Krankheiten, bei denen für die Beschwerden keine organisch fassbaren Ursachen gefunden werden können und die meist die körperliche Seite von Angst und Depression darstellen, die verbreitetste Volkskrankheit. Bei der Depression sollen etwa fünf Millionen Bundesbürger betroffen sein, von denen nur 10 Prozent eine adäquate Behandlung erhalten sollen – ein noch ungeheures Behandlungsreservoir für das Gesundheitswesen. Wenn man sich die Zahlen weiterer Krankheiten anschaut, muss man den Eindruck haben, dass kaum ein Mensch gesund und Gesundheit ein großes Glück ist.
Naturwissenschaftliche Organmediziner sehen die Ursache der Depression in einem entgleisten Hirnstoffwechsel. Durch die verfeinerten Untersuchungsmethoden sind veränderte Erregungsmuster in Hirnarealen, eine Veränderung der Netzstruktur des Gehirns und vor allem, für die medikamentöse Therapie wichtig, Veränderungen in der Informationsvermittlung mittels der Botenstoffe im Nervenkostüm feststellbar. Es ist eine Anlage des Menschen, mit seinem Gehirn auf äußere Einflüsse zu reagieren und unter Umständen verschiedene Krankheiten zu entwickeln.
Nun hat ja jeder Mensch eine Kindheit, in der er erzogen und geprägt wird, wobei die Umstände sehr verschieden sind. Bei aller Verschiedenheit gibt es innerhalb einer Kultur, überhaupt innerhalb der Menschheit, viele Gemeinsamkeiten. Diese Prägungen, die Erfahrungen in der Kindheit, die auch noch transgenerationell weiter vererbt werden, bilden die Grundlage der Wahrnehmung und als Folge des Verhaltens in der späteren Welt. Was da alles passieren kann, dazu habe ich mich in früheren Artikeln (auf der WELTEXPRESS-Titelseite unter Suchen „Bernd Holstiege“ eingeben) ausgelassen und dazu besteht eine umfangreiche Literatur.
Hier nur einige Eckpunkte: Die Persönlichkeiten des frühen Umfeldes, dabei vor allem meist als Hauptbezugsperson die Mutter, denen das Kind als bis auf seine körperliche Veranlagung ungeprägtes Wesen total ausgeliefert ist, prägen sich tief in die Persönlichkeit des Kindes ein, bestimmen die Form der Bindungen auch im späteren Leben und seinen weiteren Lebensgang. Traumatische Faktoren wie Vernachlässigung, Angst und Depression, Krankheiten, Entwertungen, Schuldzuschreibungen, seelische, – das heißt, das Kind wird nicht in seiner Entfaltung zugelassen – und körperliche Übergriffe macht sich das Kind zu eigen. Sie gehen sozusagen in Fleisch und Blut über. Es vernachlässigt sich selber, übernimmt Ängste und Depressionen, entwertet sich selber, fühlt sich schuldig, lässt Übergriffe zu und wird selber übergriffig. Je stärker Traumata eingeprägt sind und je weniger gute Erfahrungen bestehen, desto weniger Spielraum hat es für neue Erfahrungen und wird von den alten Prägungen bestimmt. Es kennt es nicht anders, und diese Erfahrungen werden zur Selbstverständlichkeit der Wahrnehmung und des Verhaltens und zu Automatismen.
Gegen die Ohnmacht des Ausgeliefertseins erhebt das Kind Gegenbilder wie Allmacht, Größe, Stärke, Souveränität, Unversehrtheit und Ideale wie Erfolge, Leistung und dogmatische Religiosität, bekommt dies oft sogar übertragen, da es den Eltern oft auch nicht anders erging. Die Größenbilder stellen sozusagen einen Reparaturversuch der verinnerlichten Entwertungen dar. Demonstration von Macht und Stärke finden sich deswegen besonders häufig bei schwer geschädigten Menschen. Auf ihre eigenen Ängste vor der Welt und dem Kind reagieren die Eltern mit Macht und Kontrolle, landläufig als Gehorsam bis zum bedingungslosen und vorauseilenden Gehorsam bezeichnet, die beim Kind sich zu späterer Selbstkontrolle und Kontrolle über andere gestalten.
Macht und Kontrolle verursachen zusätzlich die Tendenz, dass sie unterlaufen, sabotiert, opponiert und dagegen getrotzt und rebelliert wird, also das Gegenteil erreichen. So kann das Leben sich zu einem Wechsel von Gehorsam, Unterwerfung, Überanpassung und Rebellion, zu einer mangelnden Selbstentfaltung und als Folge Hoffnungslosigkeit entwickeln.
Durch die Einprägung und Verinnerlichung wird das Kind in seiner Selbstbestimmung fremd geprägt. Ich nenne das eine heteronome Autonomie. Das Kind und der spätere Erwachsene verlieren sich selbst und kommen nicht zu einem eigenen Leben, kennen in der Rücksichtnahme, in der Verantwortung und Verpflichtung nur die Priorität anderer und nicht für sich selbst. Rücksichtnahme, Verantwortung und Verpflichtung für andere sind hohe gesellschaftliche Werte, so dass ein Mensch durch diesen äußeren Beifall leicht zur Selbstaufgabe verführt werden kann. Selbstwahrnehmung wird oft als Rücksichtslosigkeit gebrandmarkt. Diese Erziehung erfolgt oft wohlmeinend und in bester Absicht. Der Mensch gilt herzlich wenig in seinen Schwächen und mit seinen Fehlern.
Die Tendenz unserer Gesellschaft und Kultur, in der Erfolg, Leistung und äußerer Status, guter Eindruck und Image eine hervorragende Stellung einnehmen und Peinlich- und Lächerlichkeit gefürchtet werden, deutet auf einen hohen Grad der Durchdringung von Ängsten, Depression und Psychotraumatisierungen.
Kommen wir zu den intrapsychischen und identifikatorischen Prozessen. Ein Kind, das sich immerfort anpassen und gehorchen muss, entwickelt naturgemäß Aggressionen auf die Verursacher und das Umfeld. Da es aber diese übernommen, sich identifiziert hat, also die äußeren Personen in ihm sind, diese zu inneren Personen werden, richten sich diese Aggressionen gegen die eigene Person, werden also zu Autoaggressionen. Neben den somatoformen, anderen psychischen und vielen Organkrankheiten gehört die Depression zu den Autoaggressionserkrankungen. Das aus dem Lateinischen abgeleitete Wort „deprimere = niederschlagen“ drückt in dem Worte „Schlagen“ den Aggressionscharakter schon aus.
Die Aggressionen werden zusätzlich verstärkt, wenn der Traumatisierte sich an seine verinnerlichten Normen und Regeln hält und solange er sie nicht im Sinne der Doppelmoral unterläuft, reagiert er mit Aggressionen auf andere, die sich nicht an seine Normen halten. Andere Menschen haben halt oft etwas ganz anderes im Kopf. Hinter den Aggressionen auf die spätere Umwelt stecken also die Aggressionen auf die Primärwelt. Diese muss sozusagen für das Frühere büßen. Zur Erhaltung der guten Beziehung und, um sich nicht lächerlich zu machen, also der äußeren Souveranität, müssen diese unterdrückt werden und verschärfen die Depression.
Da die Depression und die Entwertung im Grunde schon in der Kindheit anfangen, unangenehme Gefühle aber, solange es geht, automatisch verdrängt und nicht wahrgenommen werden, aber trotzdem während des weiteren Lebens untergründig vorhanden sind, erscheint es bei einem späteren entwertenden Auslöser dem Kranken so, als ob eine ansonsten vorübergehende depressive Verstimmung immerwährend wäre. Dadurch wächst sich die depressive Verstimmung – einmal heißt gleich immer – zu einer handfesten Depression und Hoffnungslosigkeit aus. So können äußere Kleinigkeiten eine schwer wiegende Depression hervorrufen.
Das Leben gestaltet sich für den Depressiven also zu einer Kette von Traumatisierungen. Erfolg und Leistung müssen nach außen dargestellt werden, weil innerlich das Gegenteil der Fall ist. Die Tragik und der Teufelskreislauf sind, der Zwang zum Erfolg bestätigt den Misserfolg, sonst wäre er nicht nötig. Da der Traumatisierte die Kränkungen und Verletzungen schon in sich trägt, diese sozusagen auf fruchtbaren Boden fallen, ist er außerordentlich empfindlich für Verletzungen und schnell gekränkt. Dies verstärkt seine Aggressionsbereitschaft. Dadurch ist der Umgang mit ihm so schwierig. Hinzu kommt, da er sich in einer Negativspirale dreht, reagieren Menschen, die auch nicht nur Negatives hören wollen und die Welt nicht so negativ sehen, ablehnend. Also muss er ihnen etwas positives vorspielen und mit Erfolg und Status glänzen, wodurch wiederum das Leben außerordentlich anstrengend und belastend wird.
Das mag nun bei Robert Enke in starkem Maße der Fall gewesen sein und wurde ihm zum Verhängnis. Wäre die Depression, das Unaussprechliche, aussprechbar geworden, aber davor hatte er wegen der befürchteten und teils berechtigten Verteufelungen viel zu viel Angst, hätte sie an Schärfe verloren, wie es Andreas Biermann gelang. In der illusionären Welt des Spitzensports, wo durch Erfolg die Verführung besteht, Ruhm und Geld zu erlangen, gelang es ihm infolge seiner tiefen Traumatisierungen auch nicht, wenigstens durch den Beifall der Außenwelt sein negatives, defektes Selbstbild zu reparieren, wie es etwa Kirchenfürsten durch Prunk und Heiligkeit gelingen mag. Spitzenstars, die aufgrund des inneren Gegenteils auf den Rausch des Erfolges angewiesen sind, verfallen oft in Depression, wenn der Beifall ausbleibt. Aber bei Robert Enke waren offenbar die inneren Bedingungen dermaßen stark ausgeprägt, dass ihm trotz günstiger äußerer Bedingungen die Korrektur nicht gelang.
Ähnlich wie der Depressive zwischen Entwertungen und Größenbildern hin und her schwankt, schwanken Teile der Fußballwelt und ihrer Fans zwischen Hochjubeln, Vergöttlichung und Verteufelung hin und her. Der Rausch des Erfolges, und dafür wird viel Geld bezahlt, wird von allen Seiten gesucht und die Verteufelung des Misserfolges gefürchtet. Wie oben erwähnt, deutet diese Tatsache auf die depressive Durchdringung unserer Gesellschaft hin. Depressive Anteile spielen bei vielen, wenn nicht fast allen Krankheiten eine Rolle, und das Gesundheitswesen ist einer unserer wichtigsten Wirtschaftsfaktoren.
Dass so viele Menschen durch den Suizid von Robert Enke aus allen Wolken fielen, deutet auf das Wolkenkuckucksheim hin, in dem viele leben. Andererseits sind sie geschockt, da das, was ihm passierte, auch vielen anderen passieren kann und sie dadurch sehr an sich selbst erinnert werden und sich fürchten müssen. Dadurch wird die Depression eine unheimliche Volkskrankheit.
Die dargestellten Teufelskreisläufe können Hoffnungslosigkeit vermitteln. Wie kann der/die Betroffene zumindest versuchen selbst heraus zu kommen? Das Erste und Wichtigste ist die Selbstakzeptanz, -anerkennung oder –bejahung, sich nicht zu entwerten, erniedrigen, schuldig oder sündig, auch nicht als einzigartig, also der Einzige zu sein, zu fühlen. Durch die Selbstakzeptanz ist es eher möglich, zu sich selbst in die dritte Position (siehe auch die Artikel über die „Triangulierung“) zu gehen, gelassener die eigenen Phantasien, Bilder, subjektiven Realitäten und Verhaltensweisen zu betrachten und wahrzunehmen. Hauptsächlich dadurch ist eine innere Korrektur möglich. Weiterhin ist es hilfreich, sich selbst im Kontext der Prägungen des früheren, oft auch späteren Familienmilieus und Umfeldes zu sehen. Das kann von Schuld befreien. Der dritte Punkt ist, zwischen sich und der Außenwelt zu differenzieren, etwa bei Beschuldigungen oder Vorwürfen die möglichen Hintergründe und Motivationen anderer zu hinterfragen und für sich selbst zu argumentieren. Dann sieht die Sache oft ganz anders aus.
Hinter Entwertungen anderer können Aufwertungen stecken. Das alles ist zwar leichter gesagt als getan. Aber noch schwieriger wird es, weiter im Unglück zu verharren, vor allem, wenn die Verdrängungsmechanismen nicht genügend greifen. Auch kann professionelle Hilfe nützlich sein, wenn man selbst oder durch Hinweise eines konstruktiven Umfeldes nicht genügend weiter kommt. Aber auch dann müssen die Hinweise des Hilfs-Ichs selbstbejahend angenommen werden.