Nicht mehr im Schatten – Leo Borchard

© Archiv Berliner Philharmoniker

»Der Schattenmann«, so nannte Ruth Andreas-Friedrich den Dirigenten Leo Borchard in ihrem gleichnamigen Buch, erschienen 1947 bei Suhrkamp. Der Name ist in mehrfacher Hinsicht treffend. Borchard war in Berlin kein Unbekannter, sondern ein Dirigent, der zum Beispiel 1935/1936 mit den Berliner Philharmonikern die »Populären Konzerte« gegeben hatte, doch dann nur noch wenige Konzerte bekam und hauptsächlich Orchester beim Rundfunk und im Ausland dirigierte. Im Berliner Konzertleben war er nur ein Schatten. 1938 schloss er sich der Widerstandsgruppe »Onkel Emil« (ein Warnruf) an. Dort führte ihn die Journalistin Ruth Andreas-Friedrich ein, seine enge Freundin seit 1931. Borchard, der in der Gruppe Andrik Krassnow genannt wurde, leistete wertvolle Dienste, indem er Nachrichten aus Deutschland ins Ausland brachte und umgekehrt, zum Beispiel für die britische Aufklärung. Ein Mann mit dieser Mission blieb tunlichst im Schatten.

Nach dem Untergang des Nazireichs besannen sich einige Mitglieder des Berliner Philharmonischen Orchesters ihres ehemaligen, den Nazis mißliebigen, russisch sprechenden Dirigenten, der in die Zusammenarbeit einwilligte und bereits am 26. Mai 1945 ihr erstes Konzert dirigierte. Dieser hoffnungsvolle Start endete abrupt am 23. August, als Borchard nachts im Wagen eines britischen Colonel von einem amerikanischen Soldaten irrtümlich erschossen wurde. Im Amt des Chefdirigenten folgten ihm Sergiu Celibidache, Wilhelm Furtwängler, Herbert von Karajan, Claudio Abbado und Sir Simon Rattle. Borchards nur wenige Wochen währende Ära blieb eine Episode, so dass er stets im Schatten seiner großen Nachfolger stand.

Sehr nahe am 70. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus widmen die Berliner Philharmoniker der Persönlichkeit Leo Borchards eine Ausstellung im Foyer des Hauses.  Sie würdigen einen aufrechten Mann, der sich den Nazis nicht unterworfen hatte und sein Brot ohne festes Engagement verdienen musste. In Deutschland hatte er seit 1943 Berufsverbot. Borchard war ein Glück für jene Philharmoniker, die mit ihm nach ihrer schändlichen Kollaboration mit den Nazis einen neuen Anfang im befreiten Deutschland machen konnten. Borchard wollte ein neues Deutschland und nahm den Auftrag des Magistrats von Berlin an, die künstlerische Gesamtleitung des Orchesters zu übernehmen. In einer Vitrine liegt das Original einer Bescheinigung der Abteilung Volksbildung des Magistrats, unterzeichnet von Otto Winzer, dem späteren Außenminister der DDR. Darin steht Borchard auch »das Recht zu, die Mitglieder des Orchesters, die als Mitglieder der NSDAP sich aktiv politisch betätigt hatten, zu entfernen.« Ob und wie das geschah, wird in der Ausstellung nicht berichtet. In seinem Buch »Das Reichsorchester« schreibt Misha Aster, Borchard habe dieses Recht bemerkenswert nachsichtig ausgeübt. Die Ermittler der Alliierten urteilten da wesentlich schärfer. Die meisten Nazis konnten sich jedoch herauswinden. Von etwa 20 NSDAP-Mitgliedern musste knapp die Hälfte gehen. Dennoch: Die gemeinsame Leistung des Antifaschisten und der Nazimitläufer des »Reichsorchesters« bestand darin, den Berlinern und den alliierten Soldaten inmitten der Trümmer Hoffnung auf ein neues Leben im Frieden gemacht zu haben.

Der Weg des Leo Borchard ist kurz skizziert. Geboren 1899 in Moskau als Sohn deutscher Eltern.1920 Musikstudium in Berlin bei Eduard Erdmann und Hermann Scherchen, Korrepetitor bei Bruno Walter an der Städtischen Oper und bei Otto Klemperer an der Staatsoper, Leiter von Arbeiterchören, 1929-1931 Kapellmeister beim Rundfunk in Königsberg. Am 3. Januar 1933 Debüt beim Berliner Philharmonischen Orchester. Es folgen Dirigate bis 1937. Eine Bewerbung beim Sinfonie- und Kulturorchester Baden-Baden scheitert 1937 an »persönlichen Dingen« (Borchard). Er hatte sich bei den Nazis politisch mißliebig gemacht. Mitglieder des Berliner Funkorchesters hatten sich 1933 sogar geweigert, unter ihm zu spielen. Borchard wich aus und dirigierte bis 1945 fast nur im Ausland. Er pflegte Freundschaften zu Boris Blacher und Gottfried von Einem (Gruppe Onkel Emil) sowie zu Herbert Sandberg, Fritz Busch und Leo Blech in Schweden. Wichtig waren 1943/1944 seine Schallplattenaufnahmen am Europasender Hilversum/Holland. Offiziell arbeitete er im Auftrage des Regimes, heimlich sammelte er Informationen für die Widerstandsgruppe. Im Januar 1945 drückt er sich vorm Volkssturm, verschwindet in einem Sanatorium. Im April schreibt er mit der Gruppe nachts »NEIN« an die Häuserwände (sehr ähnlich der Szene in »Furcht und Elend des Dritten Reiches« von Brecht). Die Gruppe wurde nie entdeckt, wäre jedoch im April 1945 von Rotarmisten fast als vermutete Partisanen erschossen worden. Borchards Russisch rettete sie.

Borchard betätigte sich politisch aktiv, war in der Kammer der Kunstschaffenden an der Überprüfung nazistischer Tätigkeit beteiligt und war Mitbegründer des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands. Er war glücklich mit einem eigenen Orchester und widmete sich besonders der geliebten 4. Sinfonie von Tschaikowsky. Nur in 18 Konzerten konnte er die Berliner Philharmoniker dirigieren. Sein jäher Tod im Alter von 46 Jahren beendete eine Karriere in vielerlei Hinsicht.

Welches Bild als Künstler bleibt von Leo Borchard? Helge Grünewald, Kurator der Ausstellung, meint: »Man weiss nicht, wohin der Weg mit den Berliner Philharmonikern oder jenseits von ihnen gegangen wäre. Die Bedeutung des Dirigenten lässt sich nicht wirklich beurteilen. Dafür war seine Karriere zu kurz. Und die Arbeit mit den Philharmonikern nach dem Krieg erlaubt auch kein schlüssiges Urteil – dafür war die Zeit zu kurz, das Repertoire noch viel zu begrenzt. Doch Borchards wichtige, ja singuläre Rolle für den Wiederbeginn der Arbeit der Berliner Philharmoniker steht außer Zweifel.« Er sei ein vornehmer, stets elegant gekleideter, aber auch sehr verschlossener Mensch gewesen.
Gerade sein ständiges Wandern von Land zu Land, von Orchester zu Orchester, ohne festes Engagement, mag seine Beurteilung als Dirigent erschweren. Das war eben sein Schicksal als Nazigegner. Doch kann es nicht befriedigen, wenn bestimmte Episoden in der Ausstellung nicht aufgeklärt werden. Warum wurde Borchard 1937 in Baden-Baden nicht eingestellt? Waren die »persönlichen Dinge« politische Motive, aus denen heraus die Arbeitgeber einen Rückzieher machten oder er selbst aus Vorsicht verzichtete? Bei Spitzenpositionen war der Eintritt in die NSDAP vorausgesetzt. Und was war der »Knick« in Borchards Karriere 1936/1937 bei den Berliner Philharmonikern? War er künstlerisch an seine Grenzen gelangt oder war es die Neigung des Orchesters, sich den Nazis zu unterwerfen? Oder wurde er politisch denunziert und gemobbt? Oder: wie stellte sich Wilhelm Furtwängler zu ihm? Ohne dessen Einverständnis war es ausgeschlossen, das Orchester zu dirigieren. Kühlte ihr Verhältnis ab, weil sie politisch verschiedene Wege gingen? Gibt es dafür im Umkreis des Spitzenorchesters tatsächlich keine Quellen?

Eine Sensation in den Hallen der Philharmonie ist eine bescheidene »Abteilung«: die Wanderausstellung »Onkel Emil und die Weiße Rose« – ein Beitrag der Stiftung Weiße Rose in München. Was hier erzählt wird von der unerhörten Leistung der Widerstandsgruppe Onkel Emil – Verstecken von Juden und Deserteuren, Organisieren illegaler Quartiere, Beschaffung von Lebensmittelkarten und gefälschten Ausweisen, Hilfe für Zwangsarbeiter – erweckt Bewunderung. Von der Aktion der Weißen Rose erfuhr Thomas Mann 1943 durch »Onkel Emil« und verkündete es im Londoner Rundfunk. Die Gruppe, meist bürgerliche Intellektuelle, hatte Verbindung zur Weißen Rose, zu Helmuth James Graf von Moltke und zum Kreisauer Kreis (20. Juli), nach Schweden, Holland und Großbritannien. Ein treuer Freund war der Pfarrer Harald Poelchau, der in der Strafanstalt Plötzensee viele Nazigegner auf ihrem letzten Weg begleitete. Ein Motor der Gruppe war Borchards Freundin Ruth Andreas-Friedrich. Ihre Wohnung in Steglitz war der Treffpunkt der Illegalen. Und – aus heutiger Sicht welch unglaublicher Leichtsinn – sie führte Tagebuch, das der Grundstock ihres Buches »Der Schattenmann« wurde.

Alles in allem eine höchst sehenswerte Ausstellung von Helge Grünewald, Verena Alves, Irina Graef und Anette Heilfurth.

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Leo Borchard – Dirigent, Kosmopolit, Widerständler. Bis 5. Juli im Foyer der Philharmonie. Geöffnet Montag-Freitag 15-18 Uhr, Sonnabend, Sonntag und Feiertag 11-14 Uhr sowie zu den Konzerten.

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