Enteignen! – Das Problem der gesellschaftlichen Ungleichverteilung, und wie man es lösen könnte

Armut, Wohnsilo. Quelle: Pixabay, gemeinfrei, CC0 Public Domain

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Das Thema Ungleichverteilung von Reichtum beherrscht internationale Debatten, dicke Bücher sind dazu erschienen, unendlich viele Kommentare und Artikel entstanden, es hat Parteitage, Gipfeltreffen und Konferenzen dominiert. Einig ist man sich zumindest in drei Punkten:

Erstens ist die Ungleichverteilung von Vermögen und Einkommen seit Anfang der 1980er Jahre so gut wie in allen Ländern größer geworden. Vor allem das oberste eine Prozent der Gesellschaft konnte in hohem Maße Vermögen und Einkommen konzentrieren. Nach Informationen der internationalen Nothilfe- und Entwicklungsorganisation Oxfam besitzt ein Prozent der Weltbevölkerung fast die Hälfte des globalen Vermögens.

Zweitens besteht Einigkeit darin, dass eine zu starke Ungleichverteilung negative Konsequenzen nicht nur für die Wirtschaft, sondern vor allem für den Bestand des kapitalistischen Gesellschaftssystems und für die Demokratie haben könnte. Der französische Ökonom Thomas Piketty hält für den Fall einer weiter fortschreitenden und extremen Einkommenskonzentration »eine Revolution« für wahrscheinlich, die »einer solchen Situation rasch ein Ende bereiten würde«. (1) Inzwischen habe die Ungleichverteilung annähernd das unangenehm hohe Niveau von Anfang des 20. Jahrhunderts erreicht – wie man weiß, eine Periode von spektakulären Klassenkämpfen, Revolutionsversuchen und gelungenen Revolutionen, die den globalen Kapitalismus schwer erschütterten.

Der britische Verteilungsforscher Anthony B. Atkinson, der nichts gegen eine Ungleichverteilung einzuwenden hat, solange sie gemäßigt bleibt, bewertet die derzeitige Situation als »exzessiv und unerträglich«. Er befürchtet, eine extreme Ungleichverteilung sei inkompatibel mit einer funktionstüchtigen Demokratie. (2)

»Hohe Ungleichheit in Einkommen und Vermögen«, schreibt der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, »kann sehr negative Konsequenzen haben: Sie kostet Wirtschaftswachstum, schmälert die Produktivität und senkt die Nachfrage (…) Sie teilt das Land immer stärker in zwei auseinander driftende Gruppen, unter denen der Verteilungskampf immer stärker toben wird. Langfristig treibt sie das Land – wenn sich die derzeitigen Trends fortsetzen sollten – auf die Zerreißprobe zu.« (3)

Einig ist man sich schließlich in der zentralen Schlussfolgerung: Die Politik sollte auf dem Boden bestehender Eigentums- und Produktionsverhältnisse die »exzessive Ungleichheit« auf ein ungefährliches und für Staat und Wirtschaft kostengünstiges Niveau zurückführen. »Der Kapitalismus soll netter werden«. (4) Soziale Missstände seien politisch soweit wie nötig zu begrenzen, um die kapitalistische Produktionsweise, gegen die man nichts einzuwenden hat, zu sichern und um die Demokratie zu schützen. Doch kann der Kapitalismus überhaupt »netter« werden oder gehört das enorme Missverhältnis bei Vermögen und Einkommen zu seinem Charakter?

Genau das legen u. a. die historischen Studien von Piketty nahe: In der Geschichte des Kapitalismus zeigen sich ungleiche Verteilungsrelationen als konstante Größen. Kriege, Krisen sowie Inflationen und die damit einhergehenden wirtschafts- und sozialpolitischen Staatsinterventionen konnten die Ungleichverteilung lediglich vorübergehend mildern. Das heutige Niveau entspricht teilweise dem vor 100 Jahren. Was sind die Triebkräfte für die Reproduktion der riesigen Unterschiede, und welche Möglichkeiten hätte man, das Verteilungsproblem nachhaltig zu lösen?

Apologetischer Standpunkt

Man könnte meinen, die zahlreichen Beiträge zu dieser Frage lieferten bereits eine ausreichende Antwort. Das ist leider nicht der Fall. Unbestritten ist jedoch, dass die entsprechende Forschung trotz gravierender statistischer Erhebungsmängel inzwischen viel empirisches Material zusammengetragen hat, das durch die computergestützte Auswertung vermögens- und einkommensbezogener Quellen inzwischen einen weitaus besseren Überblick über das Niveau und die Dynamik der Ungleichheit liefert, als dies noch vor einigen Jahrzehnten möglich war. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet ist es jedoch überraschend, dass fast nur die Schwankungen in den Verteilungsrelationen, nicht jedoch die Kontinuitäten thematisiert werden, die zumindest ebenso auffällig sind. Wie ist diese erstaunliche Problemverengung zu erklären?

»Es liegt mir nichts daran«, schreibt Piketty, »die Ungleichheit oder den Kapitalismus als solchen zu kritisieren – zumal die soziale Ungleichheit an sich kein Problem darstellt, wenn sie auch nur im geringsten gerechtfertigt ist, das heißt ›im allgemeinen Nutzen begründet‹ ist, so wie es im Artikel 1 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 heißt«. (5) Eine rücksichtslose Kritik des Bestehenden ist bei einem derart unkritischen Standpunkt gegenüber einer Verfassung kaum zu erwarten. Die Grenze, die zu überschreiten Piketty nicht bereit ist, liegt dort, wo es um »die Ungleichheit oder den Kapitalismus als solchen« geht. Darüber soll nicht weiter geforscht werden. Exakt an dieser Stelle endet seine Kritik. Sein ethischer Begriff von »gerechter Gesellschaft« entspricht einem netteren Kapitalismus mit einer Verteilungshierarchie, die nicht mehr so steil ist. (6) Nur Abweichungen von diesem Ideal erscheinen ihm als nicht zu akzeptierendes Übel, das zur Wahrung seines Dogmas politisch zu beseitigen ist. Der Kapitalismus selbst aber soll möglichst keinen Schaden nehmen.

Atkinson grenzt die systemrelevante Komponente der Verteilungsfrage ebenso aus wie Piketty. Er will keine »totale Gleichheit«. Die Verteilungsunterschiede hält er grundsätzlich für gerechtfertigt, nur das heutige Ausmaß scheint ihm nicht akzeptabel zu sein. (7)

Diese apologetische Sicht, die sich überall in der Debatte zeigt, verwandelt die Verteilungsforschung in eine Angelegenheit zur Rechtfertigung der bestehenden kapitalistischen Verhältnisse, die als grundsätzlich gut und unveränderbar dargestellt werden. Zentrale Begriffe, die in diesem Zusammenhang interessieren müssten, werden ausgeblendet, Bestehendes als gleichsam natürlich dargestellt.

Was ist Kapital?

Zentraler Begriff jeder Verteilungsdiskussion ist das Kapital einschließlich der entsprechenden Einkommen. Piketty bestimmt es zunächst als die »Gesamtheit der nichthumanen Aktiva, die auf einem Markt besessen und ausgetauscht werden können.« Dazu zählt er »die Gesamtheit des Immobilienkapitals (Grundstücke, Häuser), das Wohnzwecken dient, und des Geld- und gewerblichen Kapitals (Gebäude, Ausrüstungen, Maschinen, Patente usw.), das von den Unternehmen und der öffentlichen Hand genutzt wird.« (8)

Indem Piketty das Kapital vom Standpunkt des Marktes aus definiert, rückt er es in die Nähe des Vermögens; beides wird von ihm gleichgesetzt. Wie jedes andere am Markt gehandelte Vermögen steht nun das Kapital außerhalb der Produktion. Es ist auf Dinge (Immobilien, Maschinen, Anlagen), Rechte (Patente), Eigentums- oder Schuldtitel reduziert, die Kapitaleinkommen abwerfen. Indem der Zusammenhang zum Produktions- und damit Wertschöpfungsprozess ausgelöscht ist, entsteht der Schein, es würden diese Kapitalformen aus sich selbst heraus die Einkommen hervorbringen. Umgekehrt kann Piketty vom Standpunkt des Marktes aus die Einkommen aus Unternehmertätigkeit nicht mehr mit dem Kapital und den in der Produktion notwendigen Kapitalfunktionen in Verbindung bringen. Die Gehälter von Spitzenmanagern definiert er als Arbeitseinkommen, stellt sie also nicht mit dem Profit, sondern mit dem Lohn in einen Zusammenhang. Aus dieser Sicht wird die Lohnhierarchie eine eigenständige Quelle der Einkommensungleichheit und scheinbar unabhängig vom Kapital.

Soziale Ungleichheit ist für Piketty kein Problem, solange sie gerechtfertigt, d. h. im »allgemeinen Nutzen« liegt. Um zu bestimmen, was denn ein legitimes Verteilungsverhältnis sei, muss er allerdings den Marktstandpunkt kurzzeitig aufgeben und das Kapital als einen »Produktionsfaktor« betrachten. Würde es »nichts leisten«, so seine Meinung, gäbe es keine Rendite. Die Kapitalrendite muss »genau gleich der ›Grenzproduktivität‹ des Kapitals sein (das heißt dem Beitrag einer zusätzlichen Kapitaleinheit zum Produktionsprozess)«. (9) Das Kapital bekommt also unter normalen Umständen exakt ebenso viel, wie es »leistet«; seine Einkommen sind gerechtfertigt und damit es selbst.

Soweit die Verteilung mit der Grenzproduktivität des Kapitals korrespondiert, ist Piketty zufrieden. Sie entspräche einer »gerechten Gesellschaft«, die nichts anderes darstellt als die Normalgestalt des Kapitalismus. Dass diese Rechtfertigungslehre längst widerlegt ist, weil Kapital – hier stofflich aufgefasst – wegen der Heterogenität der Gebrauchswerte einfach nicht aggregierbar ist, hat Piketty trotz seiner gelegentlich kritischen Sicht der ökonomischen Theorie noch nicht einmal angesprochen.

Mit einem vergleichbaren Argument werden die unterschiedlich hohen Löhne, darunter die Unternehmenslöhne, grundsätzlich gerechtfertigt. Wie das Kapital durch eine zusätzliche Einheit das eigene Einkommen kreiert, also entsprechend seines Beitrags zur Produktion entlohnt wird, soll auch »der Lohn eines bestimmten Beschäftigten seiner Grenzproduktivität (entsprechen).« (10)

Ausbeutung, Aneignung fremder Arbeit kann es in einem solchen System nicht geben. Der Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital verschwimmt im technischen Prozess einer Mensch-Maschine-Kooperation. Im kapitalistischen Idealfall werden alle gerecht bezahlt: die Unternehmer erhalten für ihre unternehmerische Arbeit angemessene Managergehälter, darunter Prämien, Boni, Aktien, die Lohnarbeiter den Lohn und die Vermögens- oder Kapitalbesitzer als Kapitalvergütung Dividenden, Zinsen, und sie reinvestieren Gewinne zum Zwecke der Wertsteigerung des Kapitals usw. In dieser harmonisierenden Sicht steht der Manager dem Lohnarbeiter nicht mehr als die ihn beherrschende Macht gegenüber, die aus ihm möglichst viel Mehrarbeit herauszupumpen versucht, sondern scheint mit ihm produktiv-kooperativ verbunden zu sein.

Piketty sieht im Kapital, selbst wenn er es aus Rechtfertigungsgründen vom Markt in die Produktion verschiebt, kein Produktionsverhältnis. Es besteht bei ihm bloß aus stofflichen Dingen, ist vorwiegend Produktionsmittel, das als Produktionsfaktor mit der Arbeit kooperiert. Seine »gerechte Gesellschaft«, soweit sie produziert, kennt weder Subsumtion der Arbeit unter das Kapital noch sonstige betriebliche Zwangsverhältnisse. Reduziert auf ein Produktionsmittel verwandelt sich das Kapital in eine schon immer dagewesene, unverzichtbare Voraussetzung menschlicher Produktion. Entsprechend erhält die kapitalistische Produktionsweise den Schein einer natürlichen, in ihrer Grundstruktur unveränderbaren, ewig gültigen Form, so dass Piketty meint, die heutigen Kapitalrenditen und Verteilungsstrukturen bruchlos mit den Verhältnissen des antiken Zeitalters verbinden zu können. (11) Werden aber die in der kapitalistischen Produktionsweise enthaltenen Verteilungsverhältnisse als natürlich-menschliche Ordnung betrachtet, dann können sie als gewissermaßen feststehende Größen dieser »idealen Gesellschaft« kein Thema in einer Verteilungsdiskussion sein. Aus solcher Perspektive sind lediglich die Abweichungen von dieser natürlichen und deshalb »idealen« Verteilungshierarchie der Gegenstand der Kritik, mit der Konsequenz, dass sie – als zu behebender Missstand gebrandmarkt – den ausschließlichen Gegenstand der politischen Auseinandersetzung bilden.

Kern des Problems

Indem Piketty und andere vom Standpunkt der Zirkulation aus die Vermögen betrachten, »die auf einem Markt besessen und ausgetauscht werden können«, scheinen alle Vermögensformen gleich wichtig zu sein: Sie liefern Kapitaleinkommen und lassen sich in Geld realisieren, egal ob es das Sparbuch, das Girokonto, das Bausparguthaben, eine private Renten- oder Lebensversicherung, das selbstgenutzte oder untervermietete Haus- und Wohnungseigentum oder das Betriebsvermögen ist. Da weder der Zusammenhang der verschiedenen Vermögensformen noch die genaue Quelle der Kapitaleinkommen analysiert werden, bleibt der gesellschaftliche Motor unsichtbar, der die Ungleichheit produziert und auf erweiterter Stufe reproduziert. Gibt es ein Kraftzentrum, aus dem sich die Ungleichverteilung maßgeblich speist?

Die Bundesbank hat in ihrer Befragungsstudie »Private Haushalte und ihre Finanzen« (PHF) den interessanten Vermerk gemacht, dass 2014 »zehn Prozent der Haushalte einen Betrieb oder ein Unternehmen (besaßen), in dem sie eine aktive Rolle ausübten«. Unternehmensbesitz spiele eine wichtige Rolle nur bei den reichsten zehn Prozent. (12) Hinweise von Piketty gehen in die gleiche Richtung. »Sieht man sich (…) die Verfügung über Unternehmen und Produktionsmittel (an), dann beläuft sich der Anteil des obersten Dezils auf über 70-80 Prozent des Gesamtvermögens. Unternehmensbesitz bleibt für die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung ein relativ abstrakter Begriff.« (13) Der Immobilienbesitz sei die »bevorzugte Kapitalanlage der Mittelschichten und Besserverdienenden«. Je höher man sich in der Vermögenshierarchie des obersten Dezils bewege, desto wichtiger werde der Unternehmensbesitz. »Im obersten Perzentil dagegen überwiegen finanzielle Vermögenswerte und Betriebsvermögen deutlich den Immobilienbesitz«. (14)

Die Verteilung des Betriebsvermögens hat eine Besonderheit: Hier handelt es sich keineswegs nur um eine Frage fehlender Gleichheit oder Gerechtigkeit, weil der eine mehr, der andere weniger hat. Der Umfang der Ungleichheit offenbart eine spezifische Struktur, die in der Polarität von Besitz und Nichtbesitz besteht.

Zum »Betriebsvermögen« zählen sämtliche Gegenstände, die nach ihrer Art und Funktion in einem betrieblichen Zusammenhang mit dem Unternehmen stehen, wie Maschinen, Anlagen, Gewerbebauten, Infrastruktureinrichtungen, Geschäftsausstattungen, Vorprodukte, Handelswaren. Unstrittig ist: Das Betriebsvermögen dient der Profitmaximierung. Eine Wertsumme in den Formen des Betriebsvermögens wird eingesetzt, um daraus eine größer Wertsumme zu machen. Es ist kapitalistisches Betriebsvermögen, also Kapital. Ein solches Kapital fungiert in der Produktion von Waren und Dienstleistungen sowie im Groß- und Einzelhandel. Man kann es deshalb auch als fungierendes Kapital bezeichnen, im Unterschied zum Finanzkapital, das auf dem Kredit- und Kapitalmarkt gehandelt wird.

Profitmaximierung heißt umgekehrt: Lohnminimierung, Verlängerung der Arbeitszeit, Steigerung der Arbeitsintensität. Durch Senkung der Lohnkosten soll der Profit steigen. Es besteht also ein Profit-Lohn-Gegensatz, dem ein Antagonismus zwischen Lohnarbeit und Kapital entspricht.

Längst ist bewiesen, dass die Arbeit Quelle des Werts ist. Sie schafft den Gesamtprofit, wie dieser sich auch immer aufteilen mag in die Einkommensarten Unternehmensprofit, Vorstandsvergütung, Zins, Pacht, Miete, Steuern. Der Gesamtprofit ist umso höher, je niedriger die Arbeitslöhne sind. Beispielsweise müsste ein Vollzeitbeschäftigter 150 Jahre arbeiten, um auf die Jahresvergütung eines Dax-Vorstandsvorsitzenden zu kommen. In den USA liegt die Relation einer Gewerkschaftsstudie zufolge bei derzeit 335 Jahren – 1980 lag sie bei 42 Jahren. »Die Einkommensungleichheit in unserem Land ist eine Schande«, kommentierte der Präsident des mitgliederstärksten Gewerkschaftsdachverbandes AFL-CIO, Richard Trumka, die Ergebnisse. (15) Je mehr die Manager aus den Arbeitern herausholen, desto mehr verdienen sie selbst.

Verteilungsfrage neu stellen

Die Polarität von Besitz und Nichtbesitz im Bereich der Betriebsvermögen ist von grundlegender Bedeutung. Sie bewirkt, dass etwa 90 Prozent der Erwerbstätigen abhängig beschäftigt sind, weil sie meist gar kein oder zu wenig Betriebsvermögen besitzen. Sie sind deshalb ökonomisch gezwungen, ihre Arbeitskraft, d. h. ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten, gegen Lohn an die Besitzer des Betriebsvermögens zu verkaufen. Die hohen Kapitaleinkommen, die sie in Form von Warenwerten schaffen, sind das Spiegelbild ihrer relativen Armut: Wie aus der Verteilungsdebatte hervorging, wirft die tägliche Lohnarbeit im allgemeinen nicht mehr ab, als zum Leben gebraucht wird.

Im Datenreport 2016 für Deutschland ist zu lesen, dass 2014 von den rund zehn Prozent »Selbständigen« mehr als die Hälfte zu den sogenannten Soloselbständigen (2,05 Millionen) gehörten, nur knapp 1,7 Millionen führten ein Unternehmen mit mindestens einem Beschäftigten (Datenreport 2016). Ein Großteil der Selbständigen lebt selbst unter prekären Verhältnissen, während sich hohe Betriebsvermögen und hohe Profite in den Händen weniger konzentrieren.

Die Polarität von Besitz und Nichtbesitz im Bereich des Betriebsvermögens ist das Kernproblem, weshalb es als das primäre Verteilungsproblem bezeichnet werden sollte. Alle übrigen Verteilungsverhältnisse haben hier ihren Ursprung. Damit ist die Scheidung zwischen den Produzenten einerseits und dem Eigentum an den Voraussetzungen der Arbeit andererseits markiert. Die Primärverteilung umfasst also ein ganzes Produktionsverhältnis: das von Lohnarbeit und Kapital. Das Verteilungsverhältnis zwischen Lohn- und Profiteinkommen ist nur die Konsequenz daraus.

Doch dies ist kein Naturzustand, es kann verändert werden. Der Hebel muss an der Primärverteilung ansetzen – mit einem einzigen Ziel: der Inbesitznahme des Betriebsvermögens durch die in der Produktion kooperativ miteinander verbundenen Produzenten. Die Produktionsmittel gehörten dann denen gemeinschaftlich, die sie anwendeten, so dass die Polarität von Besitz und Nichtbesitz beseitigt wäre. Eine völlig andere Verteilung des gemeinschaftlich hergestellten Reichtums wäre die Konsequenz.

Schönste Konsequenzen

Infolge der gemeinsamen Besitznahme des Betriebsvermögens verschwänden sämtliche Kapitaleinkommen. Es gäbe weiterhin Immobilien, Produktionsmittel, Fabriken, Büros etc., nur könnten sie nicht mehr als Kapital zur Erzielung von Profiten eingesetzt werden. Sie wären nichts anderes als Bedingungen des Lebens. Alle daraus abgeleiteten Kapitalformen verschwänden ebenfalls.

Solange das Betriebsvermögen als Kapital verwertet wird, verwertet es zugleich Grundeigentum und Leihkapital. Es speist sämtliche leistungslosen Vermögenseinkommen und schafft die Grundvoraussetzungen für Spekulationsgeschäfte. Die Eigentumstitel etwa in Gestalt von Aktien würden dagegen wertlos, sobald sich die Produzenten das Betriebsvermögen aneigneten. Anleihen, die das Unternehmen zur Kreditaufnahme auf dem Kapitalmarkt ausgegeben hatte, würden annulliert. Unternehmenskredite müssten die Banken als uneinbringlich abschreiben. Der Löwenanteil des in Krediten und Eigentumstiteln steckenden Finanzkapitals fiele sofort weg. Ebenso verschwinden würde das fiktive Kapital, das auf den Eigentums- und Kredittiteln basiert. Derivate wären unverzüglich wertlos. Das viel gescholtene Investmentbanking hätte keine Geschäftsgrundlage mehr. Die riesengroßen Finanzvermögen lösten sich in Luft auf.

Und das Bedeutende dabei: Mit dem Verschwinden der Finanzvermögen würde nicht einmal der geringste Teil des tatsächlichen Reichtums verlorengehen. Finanzkapitale würden ihren wahren Charakter offenbaren: nur fiktives Kapital zu sein. Der wirkliche Reichtum, darunter das Betriebsvermögen, existierte unbeschadet fort.

Mit der Beseitigung des Kapitalcharakters der Betriebsvermögen wäre die Grundlage der leistungslosen Einkommen abgeschafft. Ohne Profit gäbe es keine Unternehmensgewinne, keine Zinsen, keine Dividenden, keine Grundrenten. Die Quelle solcher Einkommen wäre trockengelegt. Keiner benötigt das Finanzkapital im Arbeitsprozess. Wertpapiere, Geldscheine, Dividenden, Zinsen sind keine Produktionsvoraussetzungen. Nicht nur der Missstand einer »exzessiven Ungleichverteilung«, sondern die Grundlage des heutigen Verteilungsproblems, die Verteilungshierarchie mit ihrer Polarität von Besitz und Nichtbesitz an Betriebsvermögen, wäre beseitigt.

Anmerkungen

(1) Thomas Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2016, S. 346
(2) Anthony B. Atkinson: Inequality. What can be Done?, Harvard 2015, S. 9, S. 301
(3) Marcel Fratzscher: Verteilungskampf. Warum Deutschland immer ungleicher wird, München 2016, S. 72
(4) So der Titel eines verteilungskritischen Kommentars von Mark Schieritz in: Die Zeit, 28.7.2016
(5) Piketty, a. a. O., S. 52; ähnlich S. 562
(6) Piketty, a. a. O., S. 339 und 789
(7) Atkinson, a. a. O., S. 9
(8) Piketty, a. a. O., S. 70
(9) Piketty, a. a. O., S. 282
(10) Piketty, a. a. O., S. 402
(11) Piketty, a. a. O., S. 470 ff
(12) Bundesbank, Monatsbericht 3/2016
(13) Piketty, a. a. O, S. 344
(14) Piketty, a. a. O, S. 341
(15) FAZ vom 19.5.2016

Erstveröffentlichung: Junge Welt, 11.10.2016

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