Jetzt kommen die noch einmal dran, die schon im Literaturhaus als Personen angesprochen und in der Kurzfassung ihrer Bücher vorgestellt wurden. Sie saßen erwartungsvoll in den vorderen Reihen des Kaisersaals verteilt und auch wenn wir nicht in der Schule sind, hätten wir uns doch gewünscht, daß sie dicht nebeneinander gesessen hätten. So holte sie eine gewitzte Aufnahmeregie immer bei Nennung ihres Namens aus der Masse hervor und brachte sie groß auf die Leinwand. Erst recht, als dann die Filme der Deutschen Welle liefen, die alle Preisträger so vorstellte, wie man sie sich nach dem Lesen der Bücher selbst vorgestellt hatte. Das ist doch keine schlechte Kunst, wenn das Fernsehen das Leben nachahmt. Moderator Scobel hatte die Filme durch Verlesen der ersten Absätze und einer Kurzfassung ihrer Vite eingeleitet.
Das wollen wir nicht tun, sondern mit Norbert Scheuer und seinem bei Beck erschienen „Überm Rauschen“ beginnen, der uns unter formalen Gesichtspunkten am gelungensten erscheint. Denn er bringt – eher in Novellenform – den in die Eifel an den Fluß heimkehrenden Erwachsenen in seine Kindheitsumgebung zurück und damit zu all den Erinnerungen, den schlechten und den guten, die sich nun mit der Realität herumschlagen müssen. Das ist mit viel Liebe, Geduld und Natur erzählt, nur haben wir ein inhaltliches Problem. Nicht, daß es um so viele Männer geht, stört uns, sondern daß diese vielen Männer dauernd Fische fangen wollen und müssen und auch tun, die sie anschließend töten, denn das Wort Fischfang klingt zwar nett, schließt aber den Akt des Umbringest ein, auch wenn im Buch immer wieder klar wird, daß der Fischfang wohl tiefere, mythische Schichten in den Protagonisten anspricht.
Also mußte sich die Rezensentin erst einmal, bevor sie das Buch lesen konnte, mit sich selbst auseinandersetzen, ihre Jugend Revue passieren lassen, wo die Jungens in Oberösterreich die in den Gebirgsbächen schlupfenden Forellen mit den bloßen Händen fingen und auf den Steinen aufschlugen, damit sie tot und in ihrer Gewalt blieben. Unvergeßlich Roheit bis heute. Fisch essen wir trotzdem, denn der Mensch ist ein merkwürdiges Wesen mit all den widersprüchlichen Elementen in sich selbst. Von diesen handelt auch die Welt des Erzählers und seines Bruder Hermann, der immer irgendwo dabei ist, auch wenn er mental weggetreten zu sein scheint – oder ist. Vieles bleibt in der Schwebe und das ist nicht schlecht bei einem Buch, das vom Rauschen handelt, das sich als Rauschen wiederfindet im Parallelroman des Clemens J. Setz aus Graz.
Dabei ist Parallele, auf die gleichzeitige Nominierung bezogen, schon recht, aber so eigentlich doch als ihr Gegenteil, wie wenn man von Parallelwelten spricht, die nichts miteinander gemeinsam haben als eben dieses Rauschen, weshalb der Roman von Setz auch „Die Frequenzen“ heißt, im Residenzverlag herausgekommen, in über 700 Seiten eines selbstbewußten, kecken, ja geradezu rotzfrechen jungen Mannes heruntergeschrieben, dem man das Fabuliertalent ebenso anmerkt, wie seine jugendliche Naseweisheit, ein Verliebtsein in sprachliche Wendungen, die manchmal allzu gewollt erscheinen, aber oft genug hinhauen, um sagen zu können, ja hier ist einer, der etwas zu sagen hat. Mit seinen beiden männlichen, ebenfalls Jungmännercharakteren, Walter und Alexander, sind wir manchmal etwas durcheinandergeraten, sowohl bei den Kapitelanfängen, mit wem wir es gerade zu tun haben, ja manchmal dachten wir sogar, daß hier nur zwei Seiten ein und derselben Person vorgeführt werden, was dadurch Nahrung findet, daß es durchaus gemeinsame Frauen gibt, zumindest als literarisches Personal, was aber nicht weiterführt, denn zusammen wird zwar ein Roman daraus, aber ineinanderverflochtenen Geschichten erhalten ja dadurch ihren Resonanzboden, weil immer wieder Gemeinsames im auseinandergelaufenen Leben Ausgangspunkt- oder Klärungspunkt ist.
Wir haben den langen kurzweiligen Roman gerne gelesen, weil ihm etwas Frisches anhaftet, das sich zwar immer wieder älter macht als es ist, so als ob eine Glatze das Kennzeichen für Alter und Würde sei, wo es doch nur eine für Haarelosigkeit ist. Das Rauschen übrigens kommt hier von innen, der berühmt-berüchtigte Tinnitus und wie man mit ihm lebt, wenn, gegen ihn zu leben, lebensbedrohlich ist. Überhaupt haben wir beim Herausschreiben von Merkstellen – auch Rezensenten arbeiten da wie in der Schule – eine solche Fülle von ungewöhnlichen sprachlichen Wendungen gefunden, aber auch Aussagen, die die Welt auf ihre Weise neu interpretieren, daß wir schon jetzt auf den nächsten Roman des Finalistenpreisträgers, der morgens gen fünf Uhr mit dem Schreiben beginnt, gespannt sind. Aber erst einmal sollten Sie diesen Roman lesen.
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Info:
Die Liste der nominierten Romane in alphabetischer Reihenfolge und ihrem jeweiligen Erscheinungsdatum sind:
– Rainer Merkel, „Lichtjahre entfernt“ im Fischerverlag, März 2009
– Herta Müller, „Atemschaukel“ beim Verlag Hanser, August 2009
– Norbert Scheuer, „Überm Rauschen“ im Verlag Beck, Juni 2009
– Kathrin Schmidt, „Du stirbst nicht“ im Verlag Kiepenheuer & Witsch, Februar 2009
– Clemens J. Setz, „Die Frequenzen“ im Residenz Verlag, Februar 2009
– Stephan Thome, “Grenzgang” beim Suhrkamp Verlag, August 2009
Weitere Informationen und Termine des Preisträgers rund um die Frankfurter Buchmesse können abgerufen werden unter www.deutscher-buchpreis.de.