„Über Leben“ besteht aus den Theaterstücken „Leas Hochzeit“, „Heftgarn“ und „Simon“. Stephan Kimmig hat die beiden ersten Stücke bereits in Stuttgart inszeniert und präsentiert nun seine Inszenierung der Trilogie unter dem von ihm kreierten Titel erstmals am Deutschen Theater.
Es bedeutet Abenteuer und Genuss, sich auf die viereinhalb Stunden dauernde Vorstellung einzulassen, in denen eine großartige, ganz auf den Text konzentrierte Interpretation der dramatischen Arbeiten zu erleben ist.
Das Bühnenbild von Katja Haß besteht aus Sperrholzwänden, die auseinander klaffen, ein paar Stühlen und mit Tüchern bedeckten Möbeln. Eine unfertige Behausung, wie das Leben. Hier trifft sich zu unterschiedlichen Anlässen eine Gruppe von Menschen, die miteinander verwandt oder befreundet sind. Sie heiraten, bekommen Kinder, trennen sich, finden wieder zusammen und sterben. Es ist eine Art Familienserie von 1972 bis 1998, in der drei Generationen vorgestellt werden.
Verbunden sind diese Menschen durch die Narben, die der Holocaust verursacht hat. Die KZ-Überlebenden können über ihre Erfahrungen nicht sprechen, ihre Kinder verlangen Auskunft, und die Enkel schließlich fordern ihr Recht auf eigenes Leben ohne die Verpflichtung, vergangenes Unheil zu heilen. Das verdrängte Grauen ist nicht zu bewältigen.
Ada begibt sich in psychiatrische Behandlung aus Angst, den Verstand zu verlieren. Dass sie das Unsagbare einem Fremden anvertrauen will, empfindet ihr Ehemann Simon als Treulosigkeit, Grund genug, sich von seiner Frau zu trennen. Die Beiden finden wieder zu einander und unternehmen eine Versöhnungsreise. Danach hat Simon eine Affäre mit Dory, der geschiedenen Frau von Nico, dem dritten Ehemann von Simons Tochter Lea. Die Clique ist empört, zumal Dory auch noch von Simon schwanger wird. Nur Ada, vor der Simon die Geschichte geheim halten will, freut sich über das neue Leben. Das Wichtigste für sie ist, dass Hitlers Vernichtungsplan nicht doch noch erfolgreich ist, dass es Überlebende gibt, die trotz allem das Leben lieben und Kinder, die dieses Leben fortführen.
Almut Zilchers Ada präsentiert sich mit der Würde einer Königin. Trotz ihrer Zerrissenheit, ihrer Albträume und ihrer Ängste strahlt sie Harmonie aus, aber auch eine deutliche Reserviertheit. Zilchers Ada erscheint wie eine tief verwundete Frau, die sich als Kunstfigur neu erfinden musste, um am Leben zu bleiben. Kostümbildnerin Anja Rabes hat das Ensemble mit unspektakulärer Kleidung ausgestattet. Davon hebt Ada sich ab in ihren leuchtenden Roben in türkis und rot.
Den wohl erschütterndsten Augenblick dieses Theaterabends gestaltet Christian Grashof als Simon, als Dory ihn anfleht, ihr etwas über ihren Vater zu erzählen. Simon ist Dorys Vater im KZ begegnet, und weil Dory zu früh von ihrem Vater getrennt wurde, um sich an ihn zu erinnern, bittet sie Simon, ihr wenigstens zu sagen, wie ihr Vater aussah.
Simon begreift, wie wichtig eine solche Auskunft für die junge Frau wäre, die er liebt und der er gern jeden Wunsch erfüllen möchte. Mit seinem ganzen Körper und seiner ganzen Seele versucht Simon, sich den später ermordeten Mithäftling in Erinnerung zu rufen und etwas über ihn zu sagen. Die schmerzhafte Anstrengung zerreißt ihn beinahe. Aber gerade, als er zu sprechen beginnt, ist es, als ob sich eine Wand vor das Bild aus der Vergangenheit schiebt, und Simon kann nichts mehr sagen.
Genauso stark wie in diesem Moment tiefster Erschütterung ist Christian Grashof in der Gestaltung von Simons Begeisterung und Lebhaftigkeit. Sein Simon ist ein unscheinbarer alter Mann, von dem ein unwiderstehlicher Zauber ausgeht.
Ada und Simon hatten, vor ihrer Deportation, ihre damals vierjährige Tochter Lea in die Obhut eines nichtjüdischen Ehepaars gegeben. Drei Jahre später fand die Familie wieder zusammen. Aber Lea hat sich von ihren Eltern im Stich gelassen gefühlt, und das kann sie ihnen nicht verzeihen.
Susanne Wolff spielt Lea als eine Frau, die nicht erwachsen werden konnte. Diese Lea ist immer noch ein verlassenes, verschlossenes Kind, das gegen seine Eltern aufbegehrt und für vergangenes Unrecht Erklärungen fordert, die nicht gegeben werden können. Darüber versäumt Lea alle Chancen, sich ein eigenes Leben aufzubauen. Auch ihre dritte Ehe scheitert. Als sie sich darüber beklagt, dass Nico ausgerechnet von ihr Sicherheit und Geborgenheit verlangt, kommentiert Ada: „Dann gib sie ihm“. Die Kluft zwischen Lea und ihrer Mutter ist unüberwindlich.
Judith Herzbergs Dialoge sind knapp und klingen wie Smalltalk. Durch das, was sie sagen, werden jedoch Menschen, weitab von Klischees, lebendig. Herzberg hat die Personen ihrer Stücke liebevoll und mit einem Hauch von Ironie prägnant charakterisiert, und genau so gelingt es den SchauspielerInnen des Deutschen Theaters, diese Personen zu verkörpern. Lediglich Jörg Pose und Peter Moltzen scheinen keinen rechten Zugang zu ihren Rollen gefunden zu haben. So bleibt sowohl der erfolgreiche Makler Hans als auch Leas verquerer erster Ehemann Alexander wenig verständlich und blass.
Wundervoll ist es, Christine Schorn wieder einmal in einer hinreißenden Rolle auf der Bühne des DT zu erleben. Christine Schorn ist Riet, die „Kriegsmutter“ von Lea, mit der Lea sich auch später noch viel enger verbunden fühlt als mit Ada.
Riet ist für die Rettung des jüdischen Kindes als Heldin gefeiert worden. Simon sagt, sie habe ein Herz aus Gold, nachdem Riet, die sich unter den jüdischen Menschen offenbar als Außenseiterin fühlt, wieder einmal in einen Fettnapf getreten ist.
Riet bezeichnet sich selbst nicht als Heldin. Sie hat Fehler, die sie auch zugibt. Und gerade deshalb ist diese warmherzige, lebensbejahende, manchmal boshafte oder resignierende Riet von Christine Schorn eine beeindruckende, liebenswerte Persönlichkeit.
Meike Droste zeigt sich als Pien von ihrer herrlich komödiantischen Seite. Auf Leas Hochzeit ist Pien unternehmungslustig auf Männerfang. Später, kaum wiederzuerkennen mit zotteliger Langhaarperücke, präsentiert sich Pien als unterwürfige Ehefrau von Hans, und schließlich, geschieden und Mutter von sieben Kindern, treibt Pien ein böses Spiel, um Hans wieder einzufangen, der inzwischen mit der energischen Amerikanerin Annabel (Anita Vulesica) verheiratet ist.
Judith Herzberg nutzt ihre dramatischen Figuren nicht zur Übermittlung von Botschaften. Sie fängt Leben ein, das manchmal absurd erscheint und sich nicht eindeutig interpretieren lässt. Die 1934 in Amsterdam geborene Dichterin, die als Kind aus einem holländischen KZ fliehen konnte und bei verschiedenen Familien untergebracht war, bevor sie 1945 ihre Eltern und Geschwister wiederfand, schreibt auf der Grundlage von eigenen Erfahrungen, inspiriert vom Leben, das sich nicht auf ein Problem reduzieren lässt.
Im letzten Teil der Trilogie beschwert sich Xandra, Tochter von Leas erstem Ehemann Alexander, der mit seiner Frau bei einem Autounfall gestorben ist, darüber, dass ihr niemand etwas über ihre Eltern erzählt. Auch hier gibt es etwas Unsagbares, aber das hat nichts mit dem Holocaust zu tun.
Xandra (Claudia Eisinger), die 26jährige, die ihre Verletzbarkeit hinter einer Fassade von illusionslosem Zynismus verbirgt, gehört zu der neuen Generation, die am Schluss die Szene betritt und die Alten und Älteren auf ihre Plätze verweist.
Maskenbildner Günther Trümpelmann hat großartige Arbeit geleistet. So ist Nicos Vater Zwart (Markwart Müller-Elmau) sehr alt geworden. Und weil der früher meistens brummige, dominante Mann sich in einen rührend hilflosen Greis verwandelt hat, kann seine, vorher spitzzüngige, zweite Frau Duifje (Simone Zglinicki) sich von ihrer fürsorglichen Seite zeigen.
Der ängstliche, lebensuntüchtige Nico (Daniel Hoevels) hat mittlerweile zu seiner ersten Frau Dory zurückgefunden und macht einen glücklichen Eindruck im Schatten dieser starken Persönlichkeit.
Maren Eggert als Dory ist eine beeindruckende, leidenschaftliche Kämpferin, die alles erreicht hat, wovon Lea nur träumen konnte. Trotzdem haben die beiden Rivalinnen jetzt etwas, was sie verbindet. Weil Dory, die erfolgreiche Musikerin, häufig auf Konzertreisen ist, hat Lea bei Dorys Sohn Isaac Mutterstelle vertreten. An dieser Aufgabe ist Lea offensichtlich gewachsen. Susanne Wolff, die sich vorher immer unsicher, in sich verkrümmt, gezeigt hat, präsentiert sich am Schluss selbstbewusst in aufrechter Haltung.
Isaac, der Sohn von Dory und Simon, das Kind, über das sich alle empörten, ist zu einem jungen Mann geworden, den alle lieben. Paul Schröder als Isaac ist ein liebenswertes Schlitzohr mit jungenhaftem Charme, dazu mutig und eigenwillig.
Der Dritte im Bunde der jungen Generation ist Chaim, Sohn von Hans und Pien (Moritz Grove), geradlinig und mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn. Chaim fürchtet sich nicht vor dem Pathos großer Gefühle, wenn er Xandra mit Versen aus dem „Hohelied“ seine Liebe erklärt.
Am Ende des Stücks schauen Ada, Simon und Isaac erwartungsvoll ins Publikum, zu den Menschen, bei denen nun das Leben weitergeht.
„Über Leben“ von Judith Herzberg hatte am 08.04. Premiere im Deutschen Theater Berlin. Weitere Vorstellungen: 25.04., 01., 13. und 29.05.2011.