Was man außerhalb Frankfurts kaum weiß, und dessen sich nach den langen Amtsjahren von Petra Roth auch hierzulande kaum mehr jemand erinnert, ist, daß die beiden CDU-Frauen dereinst um das Amt der Oberbürgermeisterin stritten. Das ist entschieden und hat Erika Steinbachs Weg an die Spitze des Bundes der Vertriebenen geebnet, den sie über zehn Jahre innehat und in der sie keiner Auseinandersetzung aus dem Weg geht, was insbesondere die heute friedliche Nachbarschaft mit Polen immer wieder belastet. Demonstrativ heftig wurde sie auch beklatscht, als sie ihre Ansprache hielt, in der sie vor allem auf das Schicksal der aus Rumänien deportierten Rumäniendeutschen einging. Wichtig sei zu betonen, daß der Franz-Werfel-Menschenrechtspreis kein literarischer Preis ist, sondern Personen zukommt, die für die Verwirklichung der Menschenrechte eingetreten, diese geschützt oder durchgesetzt haben. Nimmt man die Worte der Vorsitzenden ernst, dann hat eigentlich der verstorbene Oskar Pastior, wie Herta Müller Rumäniendeutscher und spät in die Bundesrepublik gekommen, diesen Preis verdient, in dessen Namen und mit dessen Schicksal in einem russischen Arbeitslager sich der Roman „Atemschaukel“ beschäftigt. Dessen Bruder war wie über zehn heute noch Lebende aus derartigen russischen Arbeitslagern in der Paulskirche anwesend.
Der geschichtliche Hintergrund, der zur jahrelangen Anwesenheit des ganz jungen Oskar Pastior aber auch der Mutter von Herta Müller in sowjetischen Arbeitslagern führte, ist Deutschen wenig geläufig. Sozusagen stellvertretend für die Verbrechen der Deutschen und das Ausbluten der sowjetischen Volkswirtschaft in den Krieg, wurden nach dem Vormarsch der Roten Armee von Rumänien dem bisherigen Bündnispartner Deutsches Reich der Krieg erklärt. Die noch im rumänischen Banat lebenden Deutschen zwischen 17 und 45 Jahren – rund 80 000 – wurden von Russen und Rumänen als Zwangsarbeiter rekrutiert, die für die Sowjetunion in Arbeitslagern besonders schwere Arbeit verrichten mußten, meist bei unzureichender Verpflegung und dürftigen hygienischen Umständen. Diese Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beschreibt Herta Müller und daß sie dies geradezu sachlich, aber mit starken Worten tut, macht eine große Erschütterung aus, die das Buch beim Lesen ausübt.
Ausschlaggebend für den Preis ist also dieses Buch, zu dem das Zentrum gegen Vertreibungen ausführt, es würdige damit, „daß Herta Müller in diesem Werk mit der fiktionalen Autobiographie des von Hermannstadt ins ukrainische Lager Nowo-Gorlowka deportierten Leopold Auberg das grausam Schicksal der in sowjetisch Lager deportierten Deutschen in das Licht der Öffentlichkeit geholt und dem vielfältigen Schrecken des Lagerlebens literarisch einzigartig Ausdruck gegeben hat. Darüber hinaus hat dieses Buch auch große Bedeutung für die Millionen in den Gulag Deportierten anderer Völker. Es macht eindringlich deutlich, daß auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Menschenrechte in weiten Teilen Europas keine Heimstatt hatten.“
Die kurze und nüchterne Preisübergabe nach der Laudatio hatte eine physische Komponente, die erstaunte. Die kleine und zierlich Herta Müller nahm aus der Hand der sehr großen und raumgreifenden Erika Steinbach ihre Auszeichnung in Form einer Urkunde entgegen. Was aber nach diesem Tag haften blieb, waren nicht die Worte der Vorsitzenden, sondern die radikal aufrechten der Herta Müller. Diese hatte ihrem Laudator für seine bewegenden Worte gedankt und ging dann zum Angriff über. Der richtete sich hauptsächlich gegen die heutige politische Landschaft Rumäniens, die ihre Vergangenheit nicht aufarbeite, sondern in der Gegenwart fortsetze. Niemals sei die Geschichte der Judenverfolgung in Rumänien aufgearbeitet worden, auch nicht in Ungarn. Aber auch die deutschen Minderheiten haben ihre eigene Verstrickung in den Judenmord bis heute nicht thematisiert. Eine gemeinsame Verdrängungsleistung, da der Haß ihrer Landsleute und der Haß der Regierung „Hand in Hand“ gingen. Und so war es an diesem Tage wirklich Herta Müller, die als einzige den Kontext herstellte, weshalb überhaupt Rumäniendeutsche in sowjetische Lager verbracht wurden. Weil der deutsche nationalsozialistische Staat mit dem Angriff auf Polen den Krieg begann, der sich blutig nach Osten ausweitete und vor allem im Osten die Konzentrationslager errichtet wurden, in denen Juden in unvorstellbaren Mengen vergast wurden. Später las sie aus ihrer „Atemschaukel“.
Zur vorherigen Laudatio war Ilija Trojanow, aus Bulgarien gebürtig und seit neuestem in Wien lebend und wie Herta Müller beim Verlag Hanser publizierend, an den Main gekommen. Er nahm das Leben von Herta Müller als Folie. Sie – das sind jetzt unsere Worte – wurde am 17. August 1953 in Nitzkydorf im Banat/Rumänien geboren. Sie hatte Germanistik und rumänische Literatur studiert und als Übersetzerin gearbeitet, wurde allerdings 1979, als sie sich weigerte, mit dem Geheimdienst, der berüchtigten Securitate zusammenzuarbeiten, entlassen. 1987 konnte sie in die Bundesrepublik ausreisen, bekam etliche Stipendien und Lehraufträge sowie Literaturpreise. Seit 1995 ist sie Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Trojanow lobte an Herta Müller, daß sie den Opfern, die sonst namenlos vergessen werden, ihre Stimme lieh und so den Verstummten und ihrem Leben Sprache gab: „Herta Müller hat nachgefragt, ist der Deportation nachgegangen.“ Sie stamme „aus dem Osten, aus der „Region der größten Vernichtungen“, in der heute gealterte Mörder „Pflaumen in ihren Sommergärten“ pflückten. Sätze wie „Laßt das Vergangene ruhen“, kämen zumeist von Tätern.
Wir würden uns wünschen, daß Herta Müller, die in ihrem Kampf gegen eine früher verbrecherische und heute autoritäre Regierung Rumäniens nicht nachläßt – daß diese sie erfolgreich beim evangelischen Kirchentag 1989 in Deutschland verhindert hätten, muß die Evangelische Kirche aufarbeiten, wofür die neugewählte Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche in Deutschland, Margot Käßmann, sicher Fürsprecherin wird -, wir würden uns also wünschen, daß Herta Müller in ihrer geschichtlichen Aufarbeitung der Rumäniendeutschen eine Generation zurückgeht und deren genannten Verstrickungen in die Politik der Nationalsozialisten auf die Spur geht. Für ein solches Buch wird sie sicher keinen Preis eines Zentrums für Vertreibung gewinnen, dessen Unterstützerin sie nie gewesen sei, wie Herta Müller klar zum Ausdruck brachte, aber ein solches Buch ist schon lange überfällig. Kaum hat man die Preise, werden an die Nobelpreisträgerin auch schon Forderungen gerichtet. Mit diesen kann Herta Müller sicher sehr souverän umgehen. Ihre klare Position in der Frankfurter Paulskirche war eine Sternstunde für aufrechte Literaten.
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Da wir über das Buch Atemschaukel und das Wirken von Herta Müller in den letzten Wochen in verschiedenen Zusammenhängen berichtet hatten, bitte die Links nutzen, um mehr über Herta Müller und weiteres über die „Atemschaukel“ zu erfahren.
Herta Müller, Atemschaukel, Hanser Verlag 2009
Info: Franz Werfel (1890-1945) wurde sicher als Namensgeber des Preises auch deshalb ausgewählt, weil er doppelt mit den Folgen von Vertreibung zu tun hat. Literarisch durch seinen Roman „Die 40 Tage des Musa Dagh“, einem wunderbaren Stück Literatur, das eindringlich von der Vertreibung der Armenier aus der Türkei und dem Genozid an den Armenien berichtet, einem Thema und eine geschichtliche Tatsache übrigens, die einem weiteren Autor des Hanser Verlages und weiteren Nobelpreisträger Gefängnis in der Türkei einbrachte, da die Türkei bis heute die Beteiligung staatlicher Kräfte leugnet und diejenigen die die Wahrheit sagen, verfolgt. Franz Werfel war zudem Jude und wurde sofort nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 aus der preußischen Dichterakademie ausgeschlossen, floh 1938 mit seiner Frau Alma Mahler-Werfel erst nach Frankreich, über die Pyrenäen nach Spanien und Portugal, von dort nach Amerika, wo er 1945 starb.
„Der Franz-Werfel-Menschenrechtspreis wird an Einzelpersonen, Initiativen oder Gruppen verliehen, die sich gegen die Verletzung von Menschenrechten durch Völkermord, Vertreibung und die bewußte Zerstörung nationaler, ethnischer, rassischer oder religiöser Gruppen gewandt haben. Der Preis wird alle zwei Jahre verliehen. Er ist mit 10 000 Euro dotiert.“
Letzter Preisträger: György Konrad, ungarischer Schriftsteller.
Mitglieder der Jury: Otto v. Habsburg, Klaus Hänsch, Helga Hirsch, Milan Horacek, Hilmar Kopper, Otto Graf Lambsdorff, Rüdiger Safranski, Erika Steinbach.