Wie umgehen mit Chemnitz und Deutschland?

Der Goldene Reiter, August der Starke in Dresden. Quelle: Pixabay.

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Ist Chemnitz ein Menetekel? Dafür, dass in Deutschland (zumindest in Ostdeutschland) der Faschismus droht? Oder dafür, dass eine Faschismusgefahr inszeniert werden soll? Oder dafür, dass von den tatsächlichen Problemen immer wieder abgelenkt werden soll?

Man kann viele Fragen anschließen … und derzeit empfiehlt es sich wohl auch, mehr Fragen zu stellen als Antworten zu geben. Das Tötungsdelikt in Chemnitz liegt 10 Tage zurück, es hat zwei Verhaftungen gegeben (ein syrischer und ein irakischer Asylbewerber). Es hat Demonstrationen und Gegendemonstrationen gegeben. Viele Menschen wurden mobilisiert. Jeden Tag nehmen zahlreiche Personen mit Rang und Namen Stellung, das Thema füllt die Schlagzeilen. Die Gemengelage ist komplex.

Chemnitz ist kein Einzelfall. Schon mehrfach hat es Demonstrationen und Kundgebungen gegeben, nachdem ein Mensch durch Täter mit Migrationshintergrund getötet worden war – in Ost- und in Westdeutschland. Seit dem Sommer 2015 ist die Stimmung in ganz Deutschland sehr angespannt. Und nun heißt es, die neuerlichen Proteste seien rechtsextrem gesteuert.

Was die Menschen vermissen

Was hingegen viele Menschen vermissen: Angemessene Schritte und Beiträge aus Politik und Medien zur Befriedung des Landes und zu Lösung der realen Probleme. Die ersten öffentlichen Reaktionen nach den Ereignissen in Chemnitz hatten die Sache nicht besser gemacht. Auch die Aussagen der deutschen Kanzlerin waren voreilig und einseitig. Behauptet wurde, tausende Rechtsextremisten aus ganz Deutschland wären in Chemnitz aufgetreten, Chemnitz und Sachsen seien ein Hort des deutschen Rechtsextremismus, die sächsische Polizei habe erneut versagt und so weiter, und so fort. Dass ein Mensch getötet worden war, schien fast kein Thema mehr zu sein.

Seitdem hat es Differenzierungen gegeben. Das war gut so.

Aber warum hat es erneut kaum einer zum Thema gemacht, dass sehr vieles nicht in Ordnung ist in Deutschland, verstärkt nicht mehr seit dem Sommer 2015. Auch das war nur eine Etappe in einem viel umfassenderen deutschen Weg hinein in eine fragwürdige Entwicklung, die jetzt schon fast 30 Jahre andauert.

Was ist aus dem Rechtsstaat geworden?

Viele Menschen haben die Erfahrung gemacht, dass die Äußerungen und Taten der verantwortlichen Politiker, die Berichte und Kommentare vieler Medien nur wenig mit ihren persönlichen Erlebnissen zu tun haben. Einige werden auch Bücher gelesen haben: Zur Frage des Rechtsstaates zum Beispiel das der Polizistin Tania Kambouri («Deutschland im Blaulicht. Notruf einer Polizistin») oder das des Vorsitzenden des Deutschen Richterbundes Jens Gnisa («Das Ende der Gerechtigkeit. Ein Richter schlägt Alarm») oder das erst vor ein paar Wochen erschienene Buch des ehemaligen Polizisten Stefan Schubert («Die Destabilisierung Deutschlands. Der Verlust der inneren und äußeren Sicherheit»). Deutschland und die deutsche Politik haben sich in wichtigen Bereichen weit von dem entfernt, was man in Schule und Studium über einen Rechtsstaat gelernt hat, aber auch entfernt von einer freiheitlichen Demokratie. Damit umzugehen, ist gar nicht so einfach. Den Kopf in den Sand zu stecken ist keine Lösung. Unrecht nicht mit Unrecht zu bekämpfen, konsequent für den Rechtsstaat einzustehen, freiheitlich und demokratisch zu bleiben, Recht und Gesetz zu achten – aber auch davon sollte niemand abrücken.

Weitere Aushöhlung der Souveränität …

Warum Politik und Medien immer wieder so unangemessen reagieren, darüber muss man nachdenken. Sind es vorschnelle Reaktionen, «aus der Hüfte» geschossen? Ist es ideologische Verblendung? Ist es konsequente Ignoranz gegenüber den Tatsachen? Oder sind politische Pläne damit verbunden? Es wird wohl unterschiedlich sein, auch Mischungen wird es geben. Zu lesen ist, dass Vorgänge wie in Chemnitz dazu dienen sollen, den Einsatz der Bundeswehr und damit der Nato im Inneren Deutschlands vorzubereiten.1 Das würde nicht nur zu einer weiteren Schwächung föderaler Strukturen und Handlungsmöglichkeiten, sondern auch zu einer weiteren Schwächung staatlicher Souveränität führen.
Aber so wird sich Deutschland nicht befrieden lassen.

… statt Recht auf Heimat

Darf man nur außerhalb Deutschlands schreiben, dass die Menschen, auch die Deutschen, ein Recht auf Heimat haben?
So wie die folgenden Zeilen aus dem Feuilleton einer großen Schweizer Tageszeitung vom 3. September 2018: «Die Ostdeutschen lernten erstaunt, dass westdeutsche Eliten gar nicht so liberal waren, wie sie zu sein vorgaben. Ihnen zeigte sich wieder das hässliche Gesicht des Klassenkampfes. Der Kritiker, der Andersdenkende war plötzlich der Klassenfeind. Das eine realistische Problemanalyse mit einem apodiktischen ‹Wir schaffen das› obsolet gemacht wurde, dass eine Regierung angesichts der tiefgreifenden Veränderung keine Antworten bietet, wird in ganz Deutschland zu heftigen Auseinandersetzungen wie jüngst in Chemnitz führen. […] Die Probleme liegen tief, und sie müssten zum Gegenstand des demokratischen Diskurses werden, will man eine Radikalisierung vermeiden. Die Bürger spüren, dass sie das, was für sie Herkunft, Heimat, Identität ist, verlieren. Sie erkennen, dass Prozesse in Gang gesetzt werden, bei denen sie keiner gefragt hat, ob sie das wollen.»

Anmerkungen:

(1) So Willy Wimmer in seinem Beitrag Droht wieder ein ‹sächsischer Oktober› und kommt nach der Reichswehr jetzt die Bundeswehr zum Einsatz? in World Economy vom 1. September 2018.

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Karl-Jürgen Müller
Karl-Jürgen Müller ist Lehrer in Deutschland. Er unterrichtet die Fächer Deutsch, Geschichte und Gemeinschaftskunde. Er lebt in der Schweizerischen Eidgenossenschaft und schätzt die direkte Demokratie und politische Kultur in der Schweiz sehr.