Handkes Erzählung muss oder darf fast fünf Stunden ausgesessen oder genossen werden. Jelineks Goethe-Ergänzungen können, je nach Entscheidung der ZuschauerInnen, den ersten Teil der zweieinhalbstündigen Vorstellung ausfüllen oder im zweiten Teil lediglich als Faust-Störung wahrgenommen werden.
Peter Handke, 1966 mit seinem provozierenden Stück „Publikumsbeschimpfung“ als Dramatiker berühmt geworden, ist ein Meister der Sprache, und er hat sich zu einem Meister der Innerlichkeit entwickelt. „Sei nicht du selbst“, das Motto der diesjährigen Autorentheatertage, ist bei ihm fehl am Platz. Handke ist ein Selbstsucher, der die Tiefen seines Ichs auslotet und seit einiger Zeit bei seinen Wurzeln angekommen ist.
Von den Ahnen ist häufig die Rede in „Immer noch Sturm“, obwohl Peter Handke in dieser Familiengeschichte nur bis zu seinen Großeltern zurück geht, die aber auch weiter zurück reichende Traditionen repräsentieren.
Um das Zerbrechen dieser Traditionen und um den Verlust von Sprache geht es in dem wortreichen Poesiedrama, in dem Handke sich selbst als eine Ich genannte Person zur Hauptfigur gemacht hat.
Das Stück beginnt wie eine Séance, in der das Ich die Geister seiner Vorfahren um ihr Erscheinen bittet, damit sie es endlich annehmen und sich mit ihm versöhnen.
Jens Harzer als Peter Handkes Alter Ego erträumt sich erzählend die Begegnung mit seinen Großeltern, seiner Mutter und ihren Geschwistern, die auch tatsächlich Gestalt annehmen, während auf die schwarz ausgeschlagene Bühne ein grüner Blätterregen herabwirbelt.
Bühnenbildnerin Katrin Brack hat mit den bis zum Ende der Vorstellung tanzenden, schwebenden Seidenblättern, durchscheinend im goldenen Licht von Paulus Vogt, ein paradiesisches Ambiente geschaffen. Der Bretterboden der Bühne verwandelt sich in grünen Rasen, der durch das ständig herabrieselnde Laub immer höher wächst und auf dem das Ich ins Rutschen kommt, hinfällt und wieder aufgehoben wird von den ihm endlich zugeneigten seligen Geistern.
Dimiter Gotscheff hat die Uraufführung des Stücks am Thalia Hamburg in Koproduktion mit den Salzburger Festspielen inszeniert, und dabei, in offenbar großer Handke-Verehrung, vorrangig den Texts herausgestellt. Die SchauspielerInnen rezitieren anstatt zu spielen, das Ich erzählt, und die von ihm gerufenen Geister materialisieren sich ohne wirklich lebendig zu werden.
Peter Handkes Mutter entstammte einer slowenischen Familie in Kärnten. Er wurde 1942 geboren, kurz nachdem der jüngste Bruder der Mutter auf der Krim gefallen war und kurz bevor ihr ältester Bruder dort ebenfalls starb. Peters Vater war ein deutscher Soldat, Grund genug für den Großvater, seinen Enkel schon im Mutterleib zu verfluchen.
Das unverschuldete Außenseitertum und die Auseinandersetzung mit seinen Vorfahren sind Thema in einigen Werken von Peter Handke, der in einem Interview bekannt hat, ein Anhänger des Ahnenkults zu sein.
Jens Harzer als Ich nähert sich seinen Geistern mit respektvoller Demut, obwohl die sich als durchaus nicht vollkommene Menschen erweisen.
Der Großvater (Matthias Leja) ist ein autoritärer Patriarch neben dem die Großmutter (Gabriela Maria Schmeide) unterwürfig duldet und schweigt. Die Mutter (Oda Thormeyer) ist fröhlich und oberflächlich und verletzt ihre Schwester Ursula (Bibiana Beglau) durch Auslachen. Die finstere Ursula fühlt sich ohnehin der Familie nicht zugehörig und positioniert sich abseits mit dem Rücken zu den Anderen. Benjamin, der jüngste Bruder der Mutter (Heiko Raulin) ist von Ekelgefühlen befallen, die er erst als Soldat im Krieg überwindet. Valentin, der zweitälteste Bruder (Hans Löw) hat etliche Liebesaffären , begeistert sich für Swing und zieht amerikanisches Englisch der slowenischen Sprache vor.
Der Held des Ichs ist sein Onkel Gregor, der Einäugige, Begründer einer Obstplantage und Verfasser eines Buchs über Apfelsorten.
Peter Handke macht den ältesten Bruder seiner Mutter zum Partisanenführer im Zweiten Weltkrieg. Der friedfertige „Apfelmensch“ kämpft gegen die Nazi-Herrschaft und führt ein grausames Regiment, indem er seine eigenen Leute wegen geringfügiger Vergehen hinrichten lässt.
Bibiana Beglau bricht aus dem beschaulichen Erzählton der Inszenierung aus, wenn sie als Ursula, die sich so selbstverständlich den Aufständischen angeschlossen hatte, ihr Entsetzen über das Verhalten ihre Bruders äußert und eingesteht, dass sie sich zum Kämpfen und Töten nicht geschaffen fühlt. In dieser sehr bewegenden kleinen Szene wird das Ich, auf das sich sonst alles bezieht, zur Randerscheinung.
Auch Gabriela Maria Schmeide darf, sogar zweimal, großartige Akzente setzen mit ihren lautstarken, aufrüttelnden Klage- und Triumphgesängen. Wenn Schmeide tanzend und singend das Ende des Krieges begrüßt, ist das zugleich Höhepunkt und Schluss des Stücks.
Aber es geht dann doch noch weiter. Jens Harzer muss in einem langen Monolog den Fortgang der Geschichte erzählen und wieder und wieder die große Bedeutung der Ahnen hervorheben. Harzer geht dabei im Kreis, eine Handfläche auf die Rückseite seiner Hose gepresst, und das Ich, anfänglich träumender Poet, ist am Ende ein trockener Schullehrer.
Elfriedes Jelineks neues Stück war als Gastspiel des Schauspielhauses Zürich, wo es im März 2012 uraufgeführt worden war, bei den Autorentheatertagen zu erleben oder auch nicht. Beim Kartenkauf waren die BesucherInnen vor die Entscheidung gestellt, den ersten Teil des Theaterabends entweder im Saal bei Goethes „Faust“ oder im Keller bei Elfriede Jelineks Sekundärdrama zu verbringen.
Die nur vierzig Plätze im Keller waren schnell ausverkauft, und deshalb sah der größte Teil des Publikums zunächst eine hinreißende, brillante „Faust“-Interpretation von Edgar Selge und Frank Seppeler.
Dass sich der Klassiker zwischen die neuen Stücke bei den Autorentheatertagen mogeln konnte, liegt an Elfriede Jelineks Anweisung, ihr Sekundärdrama nicht ohne das Hauptwerk aufzuführen .Die Nobelpreisträgerin hatte vorgeschlagen, ihren Text während der „Faust“-Aufführung als Schrift im Hintergrund mitlaufen oder auf den Handys der ZuschauerInnen erscheinen zu lassen. Da in „FaustIn and out“ der Fall Fritzl sehr präsent ist, kam Regisseur Dusan David Parizek dann wohl auf die Idee, einen kleinen Teil des Publikums mit der FaustIn, der GeistIn und der GretIn in den Keller zu schicken, wo Ausschnitte aus der Goethe-Präsentation auf Monitoren zu sehen sind und die drei Frauen Jelineks Assoziationen dazu vortragen.
Im Saal begeistert die Kurzfassung des Goethewerks. Edgar Selge und Frank Seppeler jonglieren artistisch mit den berühmten Zitaten, schlüpfen mal in Fausts und mal in Mephistos Rolle, gestalten in grandiosen Alleingängen Duo- oder Trio-Szenen und ironisieren Tiefsinn und männlichen Größenwahn auf höchst geistreiche Weise.
In Auerbachs Keller entfachen die Beiden ein Stimmungsfeuerwerk. Frank Seppeler parodiert Roland Kaiser mit seinem Hit „Sieben Fässer Wein“ während Edgar Selge, auch noch in roten Unterhosen ein eleganter Herr, sich und einige BesucherInnen mit Creme vor der südlichen Sonne schützt und livrierte ServiererInnen den ZuschauerInnen Wein kredenzen.
Danach geht es in den Untergrund. „Zu den Müttern!“ kommandiert Frank Seppeler und gibt Edgar Selge eine Axt, mit der dieser im Hintergrund der Bühne den Weg in den Keller frei hackt, aus dem dann die Opfer heraufsteigen.
Beim Publikumsgespräch sagte Frank Seppeler, dass ihn der Auftritt der Frauen jedes Mal ärgere, während Edgar Selge sich angeblich darüber freut. Auf jeden Fall ist dieser Auftritt ein massiver Einbruch in das bis dahin so genussvolle „Faust“-Erlebnis.
Mit den drei Schauspielerinnen gruppieren sich auch die ZuschauerInnen von unten , angeleitet von den beiden Schauspielern, auf der Bühne, und werden vom Publikum im Saal mit fröhlichem Applaus begrüßt. Für die KellerbesucherInnen ist damit die Opferrolle beendet. Sie begeben sich auf die für sie im Saal reservierten Plätze, und auf der Bühne beginnt die Gretchen-Tragödie.
Franziska Walser als FaustIn, Sarah Hostettler als GretIn und Julia Kreusch, die innerhalb von zwei Tagen die Rolle der GeistIn für die erkrankte Miriam Maertens übernommen hatte, sprengen die formschöne Klassiker-Inszenierung. Goethe wird mit Jelinek durchsetzt, was bedeuten könnte, dass die Frauen sich von den Männern nicht einwickeln lassen und die Tragödie verhindern.
Tatsächlich wirkt das weibliche Trio weder dumm noch naiv und ist offenbar aufgeklärt genug, um sich auch der Vulgärsprache zu bedienen, die von den Herren nur angedacht wird. Die Männer halten sich vornehm, vielleicht sogar etwas eingeschüchtert, zurück.
Trotzdem verläuft die Handlung „Faust“ gerecht. Wenn Sarah Hostettler das sexuelle Begehren der GretIn in einem Rocksong zum Ausdruck bringt, dann ist sie damit zwar lauter aber eben nicht stärker als ein klassisches Gretchen, das „Meine Ruh ist hin“ in sein Spinnrad haucht. Und während Faust und sein Teufel ein eingeschworenes Team sind, ist von Frauensolidarität nichts zu spüren. Marthe Schwerdtlein denkt nur an ihr eigenes Amüsement, Lieschen gießt Hohn und Spott über die schwangere GretIn aus und, anstatt sie aufzubauen, werfen FaustIn und GeistIn der GretIn nur vor, dass sie sich selbst als Opfer darbringe.
Am Ende hocken Edgar Selge und Frank Seppeler neben der leblos da liegenden GretIn, sprechen im Wechsel Gretchens Text aus der Wahnsinnsszene und bewegen dabei GretIns Hände als würden sie eine Puppe gestikulieren lassen. Die Männer haben wieder alles im Griff, und auch Goethe wird schließlich von Jelinek befreit.