Verzerrte Wahrnehmung – Gelungene Uraufführung von „Blinde Punkte, Sterne“ in der Box des Deutschen Theaters

Szene aus dem Stück "Blinde Punkte, Sterne" von Mathilda Onur" nach der Regie von Lilja Rupprecht. Uraufführung 20. September 2011, Box des Deutschen Theaters in Berlin. Auf dem Bild: Jannika Hinz (Ivy), Ole Lagerpusch (Leon), Barbara Heynen (Sandra), Elias Arens (Patrick) und Ingo Schröder (Max/Live-Musiker). © Arno Declair

Mathilda Onur, 1987 in Münster geboren, studiert seit 2008 Szenisches Schreiben an der UDK Berlin und hat mit „Blinde Punkte, Sterne“ ihr erstes Stück geschrieben, eine großartige Arbeit mit einer originellen, gut gebauten Geschichte, glänzenden Dialogen, brillanten Pointen und einem verblüffenden Schluss.

Lilja Ruprecht hat das Stück temporeich inszeniert und sorgt mit einer Fülle von Gags dafür, dass die ernste Aussage der skurrilen Komödie lange fast unbemerkt bleibt. Irritationen verursachen auch das Bühnenbild von Nikolaus Frinke, die Kostüme von Bettina Schürmann und die Videos von Lennart Löttker und Richard Nürnberg, durch die immer wieder die Vermutung aufkommt, die handelnden Personen seien vielleicht gar keine Menschen, sondern Wesen aus  Fantasy- oder Comic-Welten.

Das Schauspielensemble offenbart, auch beim Durchhängen, präzise Gestaltungsarbeit und unbändige Spielfreude, und Ole Lagerpusch, noch frisch in schöner Erinnerung als Prinz von Homburg, Ferdinand oder Oberon, beweist als Leon Mut zur Hässlichkeit und entfaltet sein komödiantisches Talent.

Die seltsamste Figur im Stück ist das 13jährige Mädchen Ivy. In einem Interview, das im Programmheft zu lesen ist, sagt Mathilda Onur, von dieser Figur lasse sich am ehesten sagen, „ (…)dass sie auf mich gekommen ist, nicht andersherum. Sie stand eines Tages einfach vor der Tür und sagte energisch ’Ich will rein!’. Und ich sagte verwundert ’Na gut’(…)“.

Die Rolle dieser entschiedenen kleinen Person dann auch mit einer Dreizehnjährigen zu besetzen, war zweifellos ein gewagtes Experiment, das jedoch auf vollkommenste Weise gelungen ist. Jannika Hinz ist nicht ein mehr oder weniger begabtes entzückendes Kind, sie ist eine wunderbare Schauspielerin mit einer atemberaubenden Bühnenpräsenz. ZuschauerInnen, die meinen, die gezierte Sprechweise von Jannika Hinz sei damit zu entschuldigen, dass dieses Kind eben noch kein Profi sein kann, müssen am Ende erkennen, dass dieses Kind professionell genug ist, um so aufgesetzt zu reden wie seine Rolle es verlangt und sehr wohl ganz natürlich und unangestrengt sprechen kann.

Ivy ist eine der Plagen, unter denen Pechvogel Leon zu leiden hat. Er ist arbeitslos, ohne Perspektive und ihm geht alles schief. Vielleicht ist er auch faul, auf jeden Fall aber resigniert und depressiv. Schon zu Beginn erzählt er, dass er immerzu und über alles weinen müsse.

Ole Lagerpusch, mit schwarzer Langhaarperücke, präsentiert Leon als armseliges Häufchen Elend mit heruntergezogenen Mundwinkeln und von aufkommenden Tränen zuckenden Gesichtsmuskeln.. Leon kann nur noch schwarz sehen. Als sein Freund Patrick (Elias Arens), in ähnlicher Situation wie Leon jedoch ein bisschen motivierter als dieser, einen Job gefunden hat, kann Leon daran nichts zum Mitfreuen finden.

Aber dann hat Patrick wirklich Glück: Er gewinnt mit einem Rubbellos 20 000 Euro und will in Mexiko ein neues Leben beginnen. Damit würde Leon zu allem Übel auch noch seinen einzigen Freund verlieren, worüber der kein Wort des Bedauerns äußert. Leons Gesicht zuckt wieder einmal weinerlich, seine Augen werden ganz schmal und glitzern böse und sein ganzer Körper krampft sich zusammen. In Leon brodeln erkennbar Missgunst und Neid.

Als Patrick, nachdem er ein paar Flaschen Bier inhaliert hat, in tiefen Schlaf gefallen ist, kann Leon der Versuchung nicht widerstehen. Er stiehlt seinem Freund den Gewinn aus der Jackentasche und macht sich davon. Selbstverständlich hat er dann wieder einmal Pech, wird zusammengeschlagen und ausgeraubt, und als er im Krankenhaus aufwacht, sitzt das Mädchen Ivy mit Brille und Zahnspange an seinem Bett und erklärt, Leon und sie seien füreinander bestimmt.

Ivy folgt Leon in seine Behausung, macht sich dort aber weder nützlich noch versucht sie, Leon zu verführen. Ivy ist keine Lolita, sie ist merkwürdig altmodisch gekleidet und wirkt wie ein Mädchen aus gutem Hause, das sich in pubertärer Euphorie der Esoterik und der romantischen Liebe verschrieben hat. Sie redet über Astrologie und untermauert ihre Behauptung, Leon und sie seien unlösbar miteinander verbunden mit dem Ausschlag ihres Pendels.

Ivy residiert in Leons Wohnung wie eine Königin. Manchmal jedoch erscheint sie überraschend unsicher, verkriecht sich in sich selbst, und beim Pendeln stellt sie sich nicht sehr geschickt an. Jannika Hinz spielt sehr überzeugend ein Mädchen, das sich ganz anders gibt als es ist.

Für Leon ist nur wichtig, Ivy wieder loszuwerden. Bei ihm hat sich auch noch Patrick einquartiert, der wegen der geplanten Übersiedlung nach Mexiko seine eigene Wohnung schon aufgegeben hatte. Patrick beobachtet Leon misstrauisch und ist nicht mehr der gutgläubige zuverlässige Freund, aber das bemerkt Leon gar nicht. Nicht einmal das veränderte Verhalten seiner Nachbarin Sandra (Barbara Heynen) fällt ihm auf.

Leon ist unglücklich verliebt in Sandra. In seinen Augen ist sie das Burgfräulein, das auf einem Turm sitzt und von Minnesänger Max (Live-Musiker Ingo Schröder) angeschmachtet wird. Leons Phantasien sind von vorgefertigten Klischees geprägt. Sandra und Max tragen billige weißblonde Perücken, und die Liebeslieder, die Max zur Gitarre singt, sind kitschige Schlager. Die Burg, in der auch Leon zu leben träumt, ist ein Kinderspielzeug aus Pappe. Wenn das Tor sich öffnet, zeigt sich  Leons zugemüllte reale Wohnung.

Das Publikum erlebt das Geschehen aus Leons verzerrter Perspektive, begegnet, neben den Bühnenfiguren, auch den Special Guests, (Christoph Franken und Moritz Grove), die auf Videos als dumm-dreiste Schläger oder als tölpelhafte berittene Polizisten erscheinen.

Wenn Leon schließlich recht unsanft auf dem Boden der Realität landet, beweist er, dass er doch kein ganz hoffnungsloser Fall ist.

Das turbulente Spiel mit den verpassten Möglichkeiten von Kommunikation und Nähe wurde vom Premierenpublikum mit begeistertem Applaus honoriert.

„Blinde Punkte Sterne“ von Mathilda Onur hatte am 20.09. Premiere in der Box des Deutschen Theaters. Nächste Vorstellungen: 06. und 11.10.2011.

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