Willy Loman ist so ein Versager. Früher hat er als Handelsvertreter immerhin genug verdient, um den Lebensunterhalt seiner Familie, die Raten für alle notwendigen Anschaffungen und die Versicherungsprämien finanzieren zu können. Jetzt ist er 63, den Anforderungen seines Berufsalltags nicht mehr gewachsen. Seine beiden erwachsenen Söhne, an die Willy immer viel zu hohe Erwartungen stellte, träumen, wie ihr Vater, vom ganz großen schnellen Gewinn. Nachdem Willy von seiner Firma die Kündigung erhalten hat, ist er lebend nichts mehr wert. Nur als Toter kann er die Versorgung seiner Frau sichern.
Stefan Pucher hat in seiner Inszenierung am Schauspielhaus Zürich auf Aktualitätsbezüge verzichtet und die Atmosphäre der späten 40er und der 50er Jahre eingefangen. Dazu hat Stéphane Laimé ein überdimensionales Bühnenbild geschaffen, das wie eine Ausstellung von 50er-Jahre-Interieur erscheint. Es ist die Wohnung der Lomans mit Küche, Wohn- und Schlafzimmer, links führt eine geschwungene Treppe zu einem weiteren Schlafzimmer hinauf, dazu ist das Büro von Willys Chefin aufgebaut, alles mit passenden Ziergegenständen ausgestattet, und auf der rechten Seite, draußen, prangt das Schmuckstück, der blaue Thunderbird.
Die ganze Breite des Saals im Radialsystem V ist die Bühne, auf der die SchauspielerInnen beachtliche Wege zurückzulegen haben. Während sie agieren werden sie live von einer Kamera eingefangen und sind in Großaufnahmen oben an der Rückwand zu sehen. Durch diese Mischung aus Theater und Film entsteht Distanz. Erst am Schluss, bei der Auseinandersetzung zwischen Willy und seinem Sohn Biff, die bei Willy die endgültige Entscheidung für den Selbstmord auslöst, fehlen die Videoaufnahmen. Die Menschen auf der Bühne sind nicht mehr im falschen Film, sie gehören auch nicht mehr der Vergangenheit an, sondern sind ganz real und gegenwärtig, beide Opfer einer Lebenslüge, die nun zerstört wird, mit tödlichen Folgen.
Insgesamt aber bleiben die Personen des Stücks fern. Die AkteurInnen agieren unaufdringlich, fordern weder Verständnis noch Mitleid vom Publikum. Sie sind wie Gestalten aus der Vergangenheit ohne Bezug zur Realität der ZuschauerInnen.
Marysol del Castillo hat das Ensemble mit zeitgenössischer Garderobe ausgestattet. Friederike Wagner als Linda trägt ärmellose Kleider mit schwingenden Röcken. Sie ist eine elegante Erscheinung, sehr gepflegt, eine blonde Fee, die mit leichten Bewegungen in der Küche hantiert und grazil durch die Wohnräume schwebt. Friederike Wagner macht aber auch die Disziplin und Energie deutlich, die in diesem Zauberwesen stecken. Wie ein Soldat steht sie an der Seite ihres Mannes zu seinem Schutz, nur ihm verpflichtet, ihm mehr verbunden als ihren Söhnen. In ihrem erschreckenden Ausbruch als sie Biff und Happy hinauswirft, offenbaren sich die Gefühle, die Linda sonst mit eiserner Beherrschung hinter einer stets freundlichen Maske verbirgt.
Willy Loman (Robert Hunger-Bühler) ist ein Mann am Ende seiner Kräfte. Er wirkt fahrig, unkonzentriert und nervös, brüllt aus nichtigem Anlass seine Frau an, und steht immer wieder orientierungslos da. Dieser Willy scheint selbst nicht zu glauben, was er sagt. Wenn er von seinen vergangenen Erfolgen spricht, von seiner allseitigen Beliebtheit schwärmt, versucht er vergeblich, sich selbst Mut zu machen. Robert Hunger-Bühler gestaltet einen Menschen, der sich aufgegeben hat, einen der, wie sich in den Rückblenden zeigt, auch früher kein Kämpfer war, keiner, der jemals auch nur versucht hätte, einen eigenen Weg zu gehen. Dieser Willy ist „Dutzendware“ wie Biff sagt. Willy ist ein Mann ohne Charakter und ohne Gesicht.
Der jüngere Sohn Happy (Jan Bluthardt) ist ein gefühlloser Zyniker, dessen einziges Interesse darin besteht, Frauen aufzureißen. Gemäß der 50er-Jahre-Moral verachtet Happy die verkommenen Geschöpfe, die sich mit ihm einlassen. Heiraten würde er so eine niemals. Als Ehefrau käme für ihn nur anständige Frau wie seine Mutter in Frage.
Biff wirkt zunächst ebenfalls unsympathisch, ein eitler Schönling mit gegelten Haaren. Aber es gelingt Sean McDonagh, die Sensibilität und Verletzbarkeit dieses verirrten jungen Mannes spürbar zu machen. Ein Held ist Biff gewiss nicht, aber der Einzige, der Mut zur Ehrlichkeit besitzt.
Aus Willys Chef hat Stefan Pucher eine Chefin gemacht. Miss Howard (Julia Kreusch), mit kunstvoll aufgetürmten roten Haaren, liefert eine sehr komische kleine Szene, in der jedoch so viel menschenverachtende Ignoranz steckt, dass beim Zusehen das Lachen im Hals stecken bleibt.
In einer Rückblende taucht die Frau auf, mit der Willy sich auf seinen Geschäftsreisen im Hotel zu amüsieren pflegte. Michaela Steiger als Pin-up-Girl haucht ins Mikrofon und präsentiert sich wie eine Marilyn Monroe der Provinz.
Gespentisch ist die Erscheinung von Willys Bruder Ben (Markus Scheumann), der reich geworden ist als Goldsucher in Alaska, eine altmodisch schwarz gekleidete Gestalt mit weißem Stetson.
Randfiguren, die ein bisschen Wärme in die sterile Welt der Lomans bringen, sind Willys hilfsbereiter Freund Charley (Siggi Schwientek), den die Lomans verachten und Charleys schüchterner Sohn Bernard (Jonas Gygax), der in aller Bescheidenheit eine Karriere macht, von der Willys Söhne nur träumen können.
Am Ende, nach Willys Tod, formiert sich das Ensemble als Band auf der Bühne und Robert Hunger-Bühler singt „I `m set free“ von Velvet Underground. Ein Abschied von Willy Loman und der Sprung aus einer vergangenen Zeit, die alles andere als golden war, zurück ins Heute.