Berlin, Deutschland (Weltexpress). Es ist ein weites Feld, was sich die Berliner Philharmoniker für die Spielzeit 2022/2023 als »zentrales Saisonthema» vorgenommen haben. „Identitäten – Eine Frage des Standpunktes“. Das klingt herausfordernd und soll heißen: „Wer bin ich? Wer will ich sein?“ Als allgemeines Anliegen wollen sie „die einzigartige Eigenschaft der Musik nutzen, Verbundenheit und Verständigung über alle Grenzen hinweg zu bilden, um identitäts-, sinn- und kraftstiftende Elemente zu schaffen“. Und: „Das ist Arbeit an sich, formende Suche nach Identität“, heißt es im Pressematerial der Saison. Einerseits könne der Mensch wie nie zuvor in sich hineinhorchen, seinen Kern erspüren und sein Leben danach ausrichten, andererseits besitze er Identität in unserer Zeit nicht von vornherein, sondern sie werde erworben, oft erkämpft. Soweit die Abstraktion, doch das Orchester wird der Identität konkret nachspüren. Zum Beispiel den großen musikalischen Ideen, die dem deutschen Musikschaffen durch die Vertreibung progressiver und jüdischer Komponisten durch die Nazis verlorengegangen sind. Fühlbar wird dies in der Symphonie Fis-Dur von Erich Wolfgang Korngold, aufgeführt Anfang November, in der der Komponist Antwort auf die Frage sucht, was nach dem Zweiten Weltkrieg zeitgemäße Musik sei – für ihn eine Bestimmung seiner Identität. Oder die Komponisten wechseln bewusst ihre Identität, wie Kurt Weill, der sagte: „Ich bin in Deutschland geboren, aber ich bin kein Deutscher. Ich bin amerikanischer Staatsbürger.“ Oder sie vollziehen interessante Wandlungen in ihrem Schaffen wie Astor Piazolla, vorgeführt im Philharmonischen Kammerkonzert „Bolero“.
Die Rolle der Musik und der Musiker in der Identitätsfindung
Folgt man dem Leitgedanken, dann sollen sowohl die Zuhörer zur Selbstbefragung angeregt werden als auch die Musiker, die sich über die aufgeführten Werke gewissermaßen in Selbstfindung üben und der Identität nachspüren sollen. Sie sind Virtuosen, die, ohne ein Spitzenniveau erarbeitet zu haben, in diesem Orchester nicht spielen könnten. Doch ohne Bereitschaft zur Kollektivität könnten sie nicht den originären Klang erreichen, der das Orchester auszeichnet. Im Orchester können sie sich vervollkommnen und in vielfältigen Formen des Musizierens – in der Kammermusik, im Philharmonischen Salon, im Streichquartett, in Familien- und Mitmachkonzerten – ihre Identität als Künstler präsentieren und entwickeln.
Wo es also um die Musik und ihre Ausführenden geht, ist es ein fragwürdiger Ehrgeiz, in einer Form, auf die die Musiker keinerlei Einfluss haben, dem Philharmonischen Diskurs, am Musikschaffen vorbei, nach der Identität von Politikern, Publizisten und Theologen wie Claudia Roth, Tessa Ganserer, Anne-Nicole Heinrich, Daniel Cohn-Bendit und Seyran Ates zu fragen. Das sind interessante Leute mit interessanten Geschichten, aber mit dem angepeilten Beitrag der Musik zu den Problemen der Gesellschaft haben sie wenig zu tun. Claudia Roth wird wohl eher gefragt werden, wie viel Geld sie gibt oder wie Kulturgüter in Deutschland zuverlässig geschützt werden werden. Das Thema „Identitäten“, genau genommen, reizt geradezu, im Philharmonischen Diskurs Orchestermitglieder mit ihrer Meinung zu den Motiven und Impulsen ihres Programms und ihres Schaffens zu hören. Geplant sind jedoch ausschließlich Gäste.
Das Leitthema soll unter den Aspekten „Utopie“, „Liebe und Sexualität“, „Glaube und Werte“ sowie „Herkunft“ beleuchtet werden. Den Anfang machte im November ein Philharmonischer Diskurs zum Thema „Utopie“. Geladen waren die Klimaschutzaktivistin Luisa Neubauer und der deutsch-französische Politiker Daniel Cohn-Bendit. Erstere fiel aus, weil bereits zur Weltklimakonferenz in Ägypten. Statt ihrer diskutierte das Thema Mithu Sanyal, Schriftstellerin und Kulturwissenschaftlerin. Moderiert wurde der Diskurs von der Redakteurin des Deutschlandfunk, Christiane Florin.
Der Disput
Gefragt nach der Utopie der beiden Diskutanten gab es erst einmal quasi einen Negativbescheid. Mithu Sanyal diagnostizierte der gegenwärtigen Situation eine beispiellose Zeit ohne „positive Bilder“, auf die sie wenige eigene Antworten hätte. Die Begeisterung für den Ukrainekrieg erschüttere sie. Daniel Cohn-Bendit, der Revolutionär von Paris 1968, bekannte, fast alle Utopien verloren zu haben, etwa Europa, dann die liberale Demokratie und auch die einst während der 68er-Bewegung entwickelte Idee einer allgemeinen Räte-Organisation. Die habe er verworfen. Es gäbe keine Revolution mehr wie die Französische Revolution 1789 oder die Oktoberrevolution 1917. Es gäbe nur noch Revolten, darauf folgten Reformen, dann wieder Revolten. Die Verzweiflung der Unterlegenen führe zu immer kleineren Minderheiten, die noch weiter kämpfen. „Die Menschen wollen leben und nicht Politik machen.“ Die Grünen, so Cohn-Bendit, hätten die Utopie gehabt, aus der Energieabhängigkeit herauszukommen. Die sei durch die Krise durchkreuzt worden. Er unterstütze die Ukraine und Waffenlieferungen an sie. Vehement widersprach er der Meinung Mithu Sanyals, der Kommunismus sei eine Verheißung gewesen. „Ich war schon immer Antikommunist.“
Mithu Sanyal plädierte für ein Menschenbild, in dem die Menschen Gutes wollen. Man müsse dafür die Voraussetzungen schaffen, dass die Menschen gut sein können. „Wir“ müssten eine Politik der Liebe anbieten. Liebe, Solidarität und Freundschaft sollten die Motive sein. Ihr Wunsch sei, den Menschen ein menschliches Leben zu ermöglichen. Dafür müssten (nicht näher definierte) Strukturen geschaffen werden. Das erinnert den Berichterstatter an das Kommunistische Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels (1848): „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“
Cohn-Bendit seinerseits sieht „Europa“ als Utopie, die noch weiterentwickelt werden kann. Und, zum Thema: Es gäbe keine bessere Gesellschaft durch den Identitätswahn. „Alle haben den Wunsch, eine bessere Gesellschaft zu gestalten, und alle haben den Anspruch, sich wohl zu fühlen.“ Er sei für eine rationale Gesellschaft, die auf Denken beruhe, aber eine Herrschaft der Wissenschaft dürfe es nicht geben, weil sie an realistischen Maßnahmen versage.
Der Utopie-Diskurs endete eher mit dem Eindruck der Ratlosigkeit denn mit einer Ahnung von einem Wege aus den Krisen und Katastrophen. Die Utopie von einer Welt des Friedens kam nicht vor. Das Gedankengut des Disputs mag Interessenten finden. Für das Saisonthema, die identitätsstiftende Rolle der Musik in der Gesellschaft, geht es ins Leere.
Es folgt am 17. Januar das Thema „Geschlecht“ mit der Bundestagsabgeordneten Tessa Ganserer und der Publizistin Margarete Stokowski, moderiert von Christiane Florin.