Übersteigertes Niveau – Kinder vom Programm des ersten Familienkonzerts der Berliner Philharmoniker überfordert

Im Unterschied zu anderen Konzerten, wo Kinder aller Hautfarben aus verschiedenen Bezirken und Schulen mitspielen und singen durften, hatten der Bratschist Matthew Hunter und seine Kollegen ein anspruchsvolles Programm in kleiner Besetzung zusammengestellt – ein Klavierquintett mit Sprecher. Richtig, mit Sprecher. Das machte neugierig.  Besonders auf den Vokal- und Improvisationskünstler David Moss, der dann auch zur Kunst der Fuge seine Empfindungen mit Lauten, Satzfetzen und Gesten artikulierte. Die Kinder waren wenig beeindruckt. Das können sie auch. In seinen Bekanntmachungen hatte das Orchester zwar vorsorglich darauf aufmerksam gemacht, dass das Programm für Kinder unter 8 Jahren nicht geeignet ist.  Aber offensichtlich hatten das die Eltern kaum zur Kenntnis genommen. Sie waren  zudem  aus lieber Gewohnheit mit ihren Sprößlingen zwischen  zwei und 12  Jahren gekommen in der berechtigten Erwartung, dass die Musiker ihr Programm für die Kleinen schon verständlich präsentieren werden. Was gewöhnlich vorzüglich ausgerichtet wird.

Zunächst spielten die  Musiker »Überraschung«: zwischen der Entstehung der gespielten Stücke lagen – oh Zufall – exakt Perioden von hundert Jahren: Die Kunst der Fuge von Johann Sebastian Bach BWV 1080 (geschrieben 1742), das Klavierquintett Es-Dur op. 44 von Robert Schumann (1842) und die Ode an Napoleon op. 41 für Streichquartett, Klavier und Sprecher von Arnold Schönberg (1942). 

Bewusst stellte Hunter Schönbergs Werk in den Mittelpunkt des Programms. Ganz wie  das am Abend zuvor in der Philharmonie gespielte Werk »Ein Überlebender aus Warschau« (1947) hatte Schönberg das Quintett als Anklage gegen Hitler, die Nazis und die Vernichtung der europäischen Juden komponiert. Aus der von ihm empfundenen moralischen Pflicht heraus, gegen die Tyrannei Stellung zu nehmen, vertonte er die »Ode to Napoleon Buonaparte« von Lord Byron, die den Größenwahn und die Selbstherrlichkeit Napoleons entlarvt und verspottet, als treffende Charakterisierung auch Hitlers und seines Regimes. Das in Zwölftonmusik gesetzte Werk ist mit einer Sprechstimme ausgestattet, die Byrons neunzehnstrophige Ode in englischer Sprache zelebriert. Da liegt in mehrfacher Hinsicht das Problem. Selbst in deutscher Übersetzung würde die Ode in Pathos und Bildsprache heutige Hörer kaum bewegen und auch im Original setzte sie (heute) hohe literarische Bildung voraus. So hätte auch die ursprünglich geplante Projektion des deutschen Textes nichts Wesentliches geändert. Die Zwölftonmusik setzt ein wenn nicht geschultes, so doch eingestimmtes Ohr voraus. Ohne Einführung sind Einsicht und Erlebnis kaum zu erzielen. Es kann ein intellektuelles Publikum ansprechen, etwa Abiturklasse oder Musikstudenten, und auch das nicht ohne Erklärung und Dialog.

Da ging denn auch die Darbietung an der Aufnahmefähigkeit der Kinder vorbei. Sie langweilten sich, viele legten sich schlafen. Bei aller Virtuosität leider ein Fehlgriff.

Bedauerlicherweise  spielte auch David Moss die Variationsbreite seiner Stimme nicht so aus, dass die Kinder in Stimmung gekommen wären. Welche Möglichkeiten hätten seine Beispiele zur Überlegung von  Hunter geboten: Was kann die Musik und was macht sie mit uns? 

Das bezaubernde Klavierquintett Robert Schumanns und die Gewalt der Kunst der Fuge genügten nicht für ein nachhaltiges Erlebnis. Viele Eltern kamen ratlos aus dem Saal. Es wurde die Gelegenheit vergeben, die Schönheit des Klavierquintetts voll auszukosten. Und Arnold Schönberg wurde kein guter Dienst erwiesen. Eigentlich ungewöhnlich für das Educationprojekt der Berliner Philharmoniker, das immer wieder junge Musiker, Sänger und Zuhörer zu begeistern versteht. 

Das wird sehr anders werden im Familien-Weihnachtsprogramm am 11. Dezember im großen Saal der Philharmonie, versichert die Projektleiterin Catherine Milliken. Zwei Schulklassen werden Ausschnitte aus Tschaikowskis »Nussknackersuite« tanzen, begleitet vom Bläserensemble der Berliner Philharmoniker, moderiert von Sarah Willis. Es wird jeder Altersgruppe Spaß machen. Für die ganz Kleinen von 3 bis 5 Jahren ist ein Programm am 18. und 19. Juni kommenden Jahres geplant.  

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