Tödliche Flucht aus Gürtel des Todes

Wir haben die Chance, an der die europäischen Staaten nach Ende des Kalten Krieges gearbeitet haben, nicht genutzt, weil sie den amerikanischen Weltordnungsplänen im Wege stand. Wenn der amtierende deutsche Außenminister in den gerade archivierten Papieren des Auswärtigen Amtes nachsuchen sollte, könnte er noch die Konzepte von Hans-Dietrich Genscher und Klaus Kinkel wiederfinden. In der klaren Erkenntnis, was der Wohlstandsinsel Europa, die wie ein Fettauge über allen anderen Kontinenten schwebt, drohen musste, hatte man nach 1990 daran gearbeitet, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der damaligen Europäischen Gemeinschaft und die Strukturprinzipien der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit auf den südlichen Rand des Mittelmeeres zu erstrecken.

Gerade die in Europa so erfolgreichen drei Körbe des Helsinki-Prozessen – Menschen- und Bürgerrechte, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit sowie Abrüstung und Rüstungskontrolle -, gepaart mit der damals noch vorhandenen wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit, sollten das abwenden, was zu erwarten war: einen Massenansturm auf unsere Grenzen.
Ein Massenansturm wohlgemerkt, dem man nicht mit Panzern und Flugzeugen begegnen konnte und wollte, weil Menschen ein besseres Leben suchten und die in Europa so hoch gehaltene Humanität in Stücke zerrissen worden wäre. Nun, wir haben es geschafft, es noch schlimmer zu machen. Mit unserer europäischen Unterstützung und dem Rohstoff-Abbauinteresse in Afrika  haben wir zwischen Afghanistan über Irak, Syrien und Libyen bis hin in den Mahgreb einen Gürtel des Todes gelegt.
Endlose Kriege, vom Westen angezettelt, durchgeführt und verschlimmert, haben dort, wo man in Wohlstand leben könnte, nichts als Mord und Totschlag angerichtet. Selbst in den tiefsten Zeiten des Kalten Krieges konnte Egon Bahr für Willy Brandt davon sprechen, den südlichen Sudan mit seinen überaus fruchtbaren Böden zur Kornkammer für ganz Afrika zu entwickeln. Und heute? Großkonzerne aus aller Herren Länder haben sich in ganz Afrika das fruchtbare Land unter die Nägel gerissen und selbst den afrikanischen Bauern fehlt jede Perspektive.
Man hat nicht aus dem Elend in Somalia gelernt und lieber militärische Muskelspiele veranstaltet, die man gegen den Iran hätte nutzen können und vielleicht noch nutzen will, und die Beseitigung der Lebensgrundlage für somalische Fischer zugelassen. Riesige Fischereiflotten aus allen Teilen der Welt haben vor der somalischen Küste die Fischgründe geplündert und für Somalia blieb nur der Hunger übrig. Wie man hört und wie es oft genug berichtet worden war, hat man in London prächtig daran verdient, Lösegeld und Geiselnahmen schiedlich zu regeln. Sollte das heute anders sein in einer Zeit, wo höchst effektive Schlepperbanden selbst nach Aussagen aus der deutschen Bundesregierung Milliarden Dollar damit verdienen, die Menschen nach Europa zu bringen, deren Lebensgrundlagen zuvor von unseren Regierungen auf den Mars geschossen worden waren?
Es fällt dabei auf, daß unsere Regierungen plötzlich und bei aller Kontrollwut den eigenen Landsleuten gegenüber taub und blind geworden sind, was die Umstände dieser Massenmigration anbetrifft. Wundern kann man sich auch darüber, dass die USA nicht zum Ziel diese Migration werden dürfen, obwohl und gerade weil die USA diesen Teil der Welt mit ihren zwangsgepressten oder freiwilligen Verbündeten nicht nur nachhaltig in Brand gesetzt haben sondern von ihrem Tun nicht ablassen. Regierungen, die jeden Vorwand gesucht und genutzt haben, humanitäre Interventionen im Stil britischer Balkanpolitik vom Zaun zu brechen, um unliebsame Regierungen in die Knie zu zwingen, scheinen unfähig oder unwillig zu sein, Menschen zu helfen, Häfen mit Zustimmung der Vereinten Nationen durch eigene Sicherheitskräfte einzunehmen, angeblich befreundete Regierungen, wie der Türkei, zu veranlassen, ihre eigenen Häfen zu kontrollieren und alles zu tun, in dem Todesgürtel am südlichen Rand des Mittelmeeres durch uneigennützige Maßnahmen so etwas wie Stabilität zu schaffen. Milliarden müssen wir ohnehin ausgeben. Für die nächsten Jahre muss eine durchschnittliche kleine deutsche Gemeinde von rund 10.000 Einwohnern jährlich etwa eine Million Euro für die Migranten aufwenden. Was dann noch von lebens- und liebenswerten Gemeinden übrigbleibt, kann sich jeder ausmalen. Wenn schon Milliarden Euro für eine zutiefst humanitäre Aufgabe ausgegeben werden müssen, sollte man mit einer vervielfachten Wirkung des Geld, beginnend am nördlichen Rand Afrikas, in geeignete Projekte stecken und zu einer europäischen Politik schleunigst zurückkehren.
Attentismus ist in dieser Frage für Europa lebensgefährlich. Nachdem mit der Unterstützung unserer Regierungen faschistische Kräfte nicht nur in der Kiewer Regierung sitzen sondern mit den Feldzeichen der Vergangenheit auf ukrainischen Straßen paradieren, sollte sich jeder Innenminister in Europa an die Konferenz von Evian aus der Vorkriegszeit erinnern. Migrationsfragen hatten und haben für Europa eine ungeheure Sprengkraft und das wird allen bewußt sein müssen. Sonst hätten sie ihr Amt verfehlt und es ist schon auffallend, welcher Innenminister sich durchaus „mittelmeerisch“verhält: total abgetaucht.
Die seit Jahrzehnten publizierten Landkarten über die Neuordnung von Nah- und Mittelost geben Aufschluß darüber, wie mit Brachialgewalt an Europa und seiner wichtigen Nachbarregion herangegangen wird. Ganze Landstriche in Syrien, um nur ein Beispiel zu nennen, sind entvölkert. Mal sehen, wer demnächst in diese Häuser einziehen muß?
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Willy Wimmer
Staatssekretär des Bundesministers der Verteidigung a.D. Von 1994 bis 2000 war Willy Wimmer Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).