Tatort Ellernklipp – Das Sommertheater Netzeband spielt eine Kriminalgeschichte von Theodor Fontane

Szene aus der Inszenierung "Ellernklipp" © Theatersommer Netzeband, Förderverein Temnitzkirche e.V.

Netzeband, Brandenburg, Deutschland (Weltexpress). Netzeband ist seit 24 Jahren das berühmte Theaterdorf in der Nähe der Brandenburgischen Stadt Neuruppin. Was liegt näher, als dass der Theaterverein den 200. Geburtstag des Neuruppiner Apothekers, Journalisten und Schriftstellers Theodor Fontane würdigt. Zwar war Fontane kein Stückeschreiber, aber seine spannenden und beliebten Romane boten Stoff für Filme in der DDR und in der Altbundesrepublik. In Netzeband dramatisiert nun Frank Matthus nach altbewährter Methode einen Romanstoff für die Bühne. Am interessantesten erschien ihm die Novelle »Ellernklipp». Das ist ein Felsen im Harz, nahe Schloß und Dorf Emmenrode gelegen. Den Stoff fand Fontane etwa 1880 im Kirchenbuch von Ilsenburg und in Erzählungen der Leute aus der Gegend. Sie berichten vom Mord eines gewissen Bäumler, der 1852 seinen Sohn aus Eifersucht von der Klippe stieß und sich dann selbst hinab stürzte. Das Geschehen inmitten von Wäldern, Feldern und Wiesen ist bestens geeignet für die Naturbühne im Gutspark Netzeband.

Was macht man, wenn man ein Stück spielen und zudem ein Prosawerk auf die Bühne bringen will? Nach Brechts Arbeitsweise erzählt man sich zuerst die Fabel – und die geht bei Fontane so:
In Emmenrode stirbt die Witwe Muthe Rochussen. Sie hinterlässt die elfjährige Hilde. Es ist ein öffentliches Geheimnis, dass die Hilde das Kind des im Kriege gefallenen jungen Grafen von Emmenrode ist. Der Pfarrer Sörgel überzeugt den bei der Gräfin angestellten Heidereiter Baltzer Bocholt, das Kind aufzunehmen. Der verwitwete Heidereiter sagt zu, er will seinem Sohn Martin eine Schwester zur Seite geben. Die Kinder wachsen heran und verlieben sich ineinander. Jedoch als Hilde 18 ist, erkennt Bocholt in ihr die Frau und begehrt sie. Die Kinder wagen den Beischlaf nicht im väterlichen Hause. Der Vater belauscht sie, wie sie sich für ein Rendevous im Walde verabreden. Er ringt mit sich, ob er dem Sohne seine Liebe gönnen oder sich das Mädchen selbst nehmen solle. Der eigene Trieb siegt. Bocholt stellt den Sohn auf der Ellernklippe zur Rede, als der vom Rendevous mit Hilde zurückkehrt. Der leugnet. Sie ringen miteinander, Bocholt stößt den Sohn vor die Knie, und der stürzt zu Tode. Bocholt selbst leitet den Suchtrupp, der nichts findet. Er verbreitet die Legende, der Sohn sei zu den Preußen gegangen. Der Mord wird nicht aufgeklärt. Nach drei Jahren heiratet Bocholt seine Pflegetochter. Sie bekommt ein Kind, das herzkrank ist und stirbt. Dorfbewohner werfen ihm den Mord am Sohne vor. Aus Verzweiflung und Reue erschießt sich Bocholt – auf der Ellernklippe. Hilde lebt fortan in Armut und Not. Die Gräfin lädt sie gern zur Unterhaltung ein. Vom Pfarrer erfährt Hilde eines Tages die volle Wahrheit über ihre Herkunft und den Mord. Sie fällt ins Fieber und stirbt.

Frank Matthus folgt im wesentlichen der Fontaneschen Fabel und der Gliederung der Novelle. Statt die Geschichte durchweg in Dialoge zu formen, lässt er jedes Bild von einer Figur im Stück erzählen: Hilde, Bocholt, Martin, Sörgel, Melcher Harms und die Gräfin. Der jeweilige Erzähler zitiert dann, was die handelnden Personen gesagt haben – und die sprechen dann ihre Dialoge oder Monologe – alles über Band, wie die Form des Synchrontheaters es gebietet.

Matthus reichert die Geschichte an mit Allegorien (Sehnsucht, Angst, Liebe, Zorn, Eifersucht, Blut, Schicksal und der Tod), »der Personifizierung der Gefühle der Figuren», wie die Masken- und Kostümbildnerin Jana Fahrbach es ersonnen hat. So lässt er auch Personen aus dem Jenseits sprechen. Matthus beruft sich auf Fontanes Absicht, die Geschichte mit untergründiger Mystik aufzuladen – vielleicht gut für eine Grusel-Kriminalgeschichte. Das jedoch liest man aus der Novelle nur andeutungsweise heraus. Matthus lässt sich da lange Monologe einfallen, die das Seelenleben oder die Motive der Figuren ausdeuten sollen. Zum Beispiel lässt er den Sohn Martin in endlosem Monolog (wenn die Zuschauer schon das Ende herbeisehnen) des Vaters Motive, sein inneres Wesen, sein Vorbild rühmen und ihn faktisch vom Mord freisprechen. In Fontanes Buch ist der Heidereiter ein verschlossener, gefühlsamer Mensch. In der Inszenierung ist er als Haustyrann angelegt, der seinen Willen durchsetzt. Wofür dann Martins Verzeihung? Man fragt sich dann eher, mit wem Matthus hier offene Fragen klären will.

Wenn auf der Bühne ein paar Geister mit schönen Masken umherschweben, sieht das hübsch aus und weckt Bewunderung für die Phantasie der Gestalter. Jedoch damit »tiefere Gedanken» in das Stück projizieren zu wollen, wird dann doch nicht mehr als Erklärungshilfe, sondern als irrationale Ablenkung empfunden.

Im Unterschied zu Frank Matthus` bewährter, politisch scharf pointierter Vertiefung der Zusammenhänge und Motive bleibt hier völlig weg, was zu Fontanes Zeiten als gesellschaftliche Verhältnisse auf dem Lande unter der Adelsherrschaft allen Lesern geläufig war. Ich meine die sozialen Beziehungen zwischen den Figuren des Stücks, zum Beispiel: inwieweit stand hinter dem Ansinnen des Pfarrers, das Kind beim Heidereiter in Pflege zu geben, das (offiziell verschwiegene) Interesse der Gräfin, ein illegitimes Kind ihres Sohnes in guten materiellen Verhältnissen unterzubringen? Und inwieweit war Bocholt dazu verpflichtet, denn er war von der Gräfin abhängig? Welche Konflikte hatte der Heidereiter und Wildhüter mit den Bauern und Tagelöhnern, die mit der Tötung des Wilddiebs nicht einverstanden waren, weil sie selbst darauf angewiesen waren, Essen für die Familie heranzuschaffen? Wie und von wem wurde der Mord am Sohne vertuscht? Unter welchem Druck durch die Ablehnung der Dorfbevölkerung stand der Täter, sodass er sich schließlich erschoss? Mit diesen Bezügen wären die Motive der handelnden Personen überzeugender vermittelt worden. Die Spannung wäre gewachsen, wie denn die Tat aufgeklärt und gesühnt werde. Wenn Frank Matthus einen Stoff bearbeitet, erwartet man derartige Vertiefungen.
So blieb die Inszenierung unter den Erwartungen, die der Zuschauer vom Sommertheater Netzeband gewöhnt ist.

Das Auge indes kommt wieder auf seine Kosten. Die Holzbildhauer Robert Vogel und Benjamin Schulte schufen ein Bühnenbild aus knorrigen windschiefen Holzbauten, in denen keine Linie, kein Winkel und keine Fläche gerade oder eben sind. Das Dorf Emmenrode war symbolisiert durch hüfthohe Holzhäuschen, in denen kleine Darsteller emsig werkten. Erfahrungsgemäß ist für den Technischen Direktor Marc Hermann kein technisches Problem unlösbar. Desto fragwürdiger ist es, warum kein Imitat der Ellernklippe (zur Bewunderung der Zuschauer) errichtet worden war. Vater und Sohn ringen also auf der Wiese. Man kann vom Zuschauer Phantasie verlangen, aber der will auch »gern erstaunen». Damit ist die Nutzung der 120 Meter langen Wiese nicht gelungen.
Überwältigend ist erneut die Spielleidenschaft der Darsteller. Von 25 Mimen sind sechs Berufsschauspieler, ein Unterschied ist kaum zu merken. Um ein bewährtes Schauspielerkollektiv wie Uschi Schneider, Andreas Klein, Daria Monciu und andere scharen sich begeisterte Jugendliche und Kinder aus der Gegend und beherrschen die Bühne mit einem Feuerwerk an Spielfreude. Echtes Volkstheater. Der Weg nach Netzeband lohnt sich immer.

Weitere Vorstellungen am 10., 16., 17., 30. und 31. August, 20:30 Uhr. Karten an der Abendkasse 31 und 35, ermäßigt 27 und 31 Euro.

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