Berlin, Deutschland (Weltexpress). Was sich in der Ukraine abspielt erhält zunehmend den Charakter eines Stellvertreterkriegs: Europäer und USA senden immer mehr und immer schwerere Waffen in Richtung Ukraine, die nicht wie im Kalten Krieg in Abwehrbereitschaft gestellt sondern sofort gegen die russische Kriegsmaschinerie zur Abwehr der Aggression gegen die Ukraine eingesetzt werden. Und für die Strategen in den europäischen und im amerikanischen Generalstab ist dieser Krieg – so makaber dies klingen mag – eine unerwartete Quelle höchst relevanter Informationen über die (bisher weit überschätzte) Schlagkraft der russischen Streitkräfte: im Hinblick auf eine künftige Konfrontation mit der Nato (die, hoffen wir’s, niemals stattfinden wird).

Nicht nur in Europa und Amerika wird das Kriegsgeschehen in der Ukraine mit höchster Aufmerksamkeit verfolgt – mindestens so sehr im Fernen Osten, in Taiwan. Das europäische Szenario könnte sich, unter ähnlichen Vorzeichen, auch dort wiederholen: auch dort geht es um das Überleben einer jungen Demokratie gegen einen mächtigen, aggressiven und diktatorischen Nachbarstaat. Zumal China und Russland einander erst kürzlich ihrer gegenseitigen „unlimitierten Freundschaft“ versichert haben. Invasionsängste sind Teil der taiwanesischen Realität. Allmählich hat sich unter den nur 24 Millionen Taiwanesen eine eigene Identität formiert. Taiwan ist aber lediglich de-facto souverän und nennt sich weiterhin „Republic of China“ (ROC).

Vor einem Jahr bezeichnete der „Economist“ Taiwan in einem Leitartikel als „Der gefährlichste Platz auf der Erde“. Amerikanische Strategen halten eine chinesische Invasion bis Ende des Jahrzehnts für wahrscheinlich. Das wäre nicht nur für die Taiwanesen verheerend – das Land ist der weltweit wichtigste Chip-Produzent und produziert 84 Prozent aller Chips. Taiwan ist wie die Ukraine durch kein Verteidigungsbündnis geschützt und es ist im Rahmen seiner Doktrin der „strategic ambiguity“ fraglich, ob die USA im Fall einer Invasion Chinas eingreifen würde. Falls Washington dann die Siebte Flotte nicht aktiviert, wäre Chinas Position als führende Macht in Asien besiegelt. Peking registriert Unzulänglichkeiten und Niederlagen der gewaltig überlegenen russischen Streitkräfte gegen einen zwar zahlenmässig weit unterlegenen aber hoch motivierten und von einer westlichen Einheitsfront unterstützten Gegner. Und ähnlich wie die ukrainischen Sümpfe und Wälder dem Verteidiger zugute kommen, so verfügt Taiwan über einen entscheidenden territorialen Vorteil: Die 160 Kilometer breite Meeresstraße, welche die Insel vom Festland trennt.

Anmerkung:

Vorstehender Beitrag von Dr. Charles E. Ritterband wurde in „Vorarlberger Nachrichten“ am 29.4.2022 erstveröffentlicht.

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