Berlin, Deutschland (Weltexpress). Entgegen den verbreiteten Lügen, beim Anschluss der DDR an die BRD als „friedlicher Revolution“ habe es keine Toten gegeben, sieht die Realität auch hier anders aus. Die Verlierer der Geschichte wurden nicht, wie der damalige Justizminister der BRD, Klaus Kinkel, erklärte, in Lager gesperrt, sondern ins soziale Abseits gedrängt. 1 Das hieß, dass Unzählige mit Berufsverbot belegt, ihre Menschenwürde mit Füßen getreten, gegen sie eine unsägliche Lügen- und Hetzkampagne geführt, Tausende von Gericht gezerrt und verurteilt wurden. Über die Zahl derer, die dem nicht stand hielten, denen die Kraft fehlte, zu widerstehen, die Hand an sich selbst legten, liegen keine Angaben vor. Ausgenommen einen Fall, zu dem sich Hans Modrow äußerte, ist nicht bekannt geworden, dass sich die führenden Opportunisten, die die DDR in den Untergang trieben, sich dazu äußerten, ganz zu Schweigen davon, der Toten zu gedenken.
Das geschah in einer Studie der Zeitschrift „Icarus“ der Gesellschaft für Bürger- und Menschenrecht (GBM) in Heft 3 und 4/ 2006, die schrieb, dass die Zahl dieser Toten in die Zehntausende geht, wenn sie nicht gar, wie intern angenommen wird, die Einhunderttausend erreichte. Laut der französischen Nachrichtenagentur „AFP“ töteten sich bereits im Jahr nach der Einverleibung der DDR in Ostdeutschland 4 294 Menschen selbst. ,Die Opfer waren Arbeiter und Genossenschaftsbauern, Lehrer, Ingenieure und Journalisten, Ärzte, Künstler und Wissenschaftler, von den Massenentlassungen Betroffene, obdachlos gewordene Personen, Kinder, die die Demütigungen ihrer Eltern nicht ertrugen. Der Suizidexperte Udo Grashoff berichtete, dass von 1989 bis 1991 die Selbstmordrate in den neuen Bundesländern um rund zehn Prozent anstieg. Wie viele von den über 11 000 Menschen, die in der Bundesrepublik jährlich Selbstmord begehen, Opfer der „Wende“ wurden, ist nicht bekannt.
Autoren der Studie waren u. a. der bekannte Faschismusforscher der DDR, Prof. Manfred Weißbecker, der Ökonom Prof. Harry Nick, der Pfarrer Dr. Dieter Frielinghaus, die Schauspielerin Käthe Reichel und der Rechtsanwalt Peter Michael Diestel. Weißbecker schrieb über seinen Kollegen an der Jenenser Universität Prof. Gerhard Riege, dem als Mitglied des Bundestages in dem „hohen Haus“ blanker antikommunistischer Hass entgegenschlug. In ihm entäußerte sich ein „Ungeist, der noch Schlimmeres als Keim in sich trägt“, urteilte Gerhard Haney, einer der Kollegen Rieges. „Sie werden den Sieg über uns voll auskosten. Nur die vollständige Hinrichtung ihres Gegners gestattet es ihnen, die Geschichte umzuschreiben und von allen braunen und schwarzen Flecken zu reinigen“, schrieb Prof. Riege bevor er am 15. Februar 1992 den Freitod wählte.
Hier ist anzumerken, dass Riege das Einzige dieser Opfer ist, zu dem sich Modrow öffentlich äußerte. An Hand des Bundestagsprotokolls über eine Rede Rieges enthüllt er mit Zitierungen die abgrundtiefen antikommunistischen und DDR-feindlichen Hetztiraden, die die Rede Rieges begleiteten, und die den „sensiblen Riege“ in den Freitod trieben. Modrow, das muss hier sachlich gesagt werden, enthielt sich der sich hier (wie auch bei anderen Gelegenheiten) bietenden klaren persönlichen Abrechnung mit diesem menschenfeindlichen System und beschränkte sich darauf, dass das Redeprotokoll „nicht nur die Arroganz im Hause, mit der Riege und seine Kolleginnen und Kollegen von der PDS/Linke Liste behandelt wurden“ offenbarte, sondern auch „Rückschlüsse auf das Demokratieverständnis mancher Abgeordneter“ gestatte.
Zurück zur Studie der Zeitschrift „Icarus“, die anführte, dass zu den Opfern gehörten: der Grafiker Thomas Schleusing vom Jugendmagazin „Neues Leben“, sein Kollege, der sensible Zeichner und Gestalter Christoph Ehbets, bekannt u. a. durch seine Cover beim VEB Deutsche Schallplatte. Der Vizepräsident des DTSB Franz Rydz, der Minister für Bauwesen der DDR Wolfgang Junker, der Raubtierdresseur Hanno Coldam (Heinz Matloch) der international bekannten Löwen-Gruppe des VEB Zirkus Aeros, der hervorragende Neurowissenschaftler der DDR Prof. Armin Ermisch, nach dem ein internationaler Preis für herausragende Nachwuchswissenschaftler benannt ist. Der weltberühmte Schauspieler Wolf Kaiser, der sich seine Menschenwürde nicht nehmen ließ und dafür in den Tod ging. Als einen „ungekrönten Monarchen der Schauspielzunft“ würdigte ihn Eberhard Esche in seiner Grabrede.
Nicht nur SED-Mitglieder waren unter den Opfern. Unter ihnen befanden sich die Jugendbildungsreferentin der Evangelischen Akademie Meißen, Anne-Kathrin Krusche, und der frühere Abgeordnete der sächsischen CDU Herbert Schicke, der Arbeitsmediziner und Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in der Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Lichtenberg, Dr. Rudolf Mucke, der weder der SED noch der FDJ angehört hatte. Das MfS hatte 1976 Anwerbungsversuche wegen „dekonspirativen Verhaltens“ aufgegeben. Die „Ehrenkommission“ der Berliner Charité hielt seine Weiterbeschäftigung dennoch für „unzumutbar“. Dem Hochschullehrer Hans Schmidt, dessen hohes theoretisches und international anerkanntes Wissen die Wirtschaftsuniversität Wien würdigte, wurde – wie unzähligen anderen DDR-Wissenschaftlern – „wegen mangelnden Bedarfs und mangelnder fachlicher Qualifikation“ gekündigt. Als „sein Henker“ agierte der Nazikriegsverbrecher Prof. Wilhelm Krelle, den es nach dem Anschluss der DDR als Gründungsdekan des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften an die Humboldt-Universität Berlin (HUB) gespült hatte. Diesem als SS-Sturmbannführer in Griechenland an Kriegsverbrechen beteiligten, mit dem Großen Bundesverdienstkreuz der BRD ausgezeichneten Prof. Krelle, verlieh die Präsidentschaft der HUB auch noch die Ehrendoktorwürde. Prof. Krelle erklärte öffentlich, er werde „Dr. Schmidt unter allen Umständen von der Humboldt-Universität entfernen“. Nach einem vierjährigen zermürbenden und entwürdigenden Rechtsstreit um seinen Arbeitsplatz, der für den Schwerbehinderten nicht ohne gesundheitliche Folgen blieb, nahm sich Dr. Schmidt am 8. Mai 1996 durch einen Sprung aus dem 13. Stockwerk seiner Hochhauswohnung das Leben. Prof. Krelle verstarb im Juni 2004 wohlpensioniert im Alter von 88 Jahren als einer der unzähligen für ihre Teilnahme an faschistischen Kriegsverbrechen in der BRD nicht zur Verantwortung gezogenen Naziaktivisten. Die Leitung der HUB widmete ihm ein „ehrendes Gedenken“.
In der Studie wird geschildert, wie im Januar 1992 in den frühen Morgenstunden Polizisten die Wohnung des Ehepaares Fuchs in der Grunaer Straße 12 in Dresden besetzten und Otto Fuchs verhafteten. Seine Frau Martha, eine Jüdin, die KZ-Häftling gewesen war, erlitt einen schweren Nervenzusammenbruch. Die furchtbaren Erlebnisse der Nazizeit wurden lebendig. Sie glaubte, Faschisten drängten – wie nach 1933 – wieder an die Macht. Mit einem schweren Schock wurde sie ins Krankenhaus eingeliefert. Die Leipziger Staatsanwaltschaft erhob gegen Otto Fuchs Anklage wegen Rechtsbeugung und Mord. Er war 1950 in den Waldheim-Prozessen gegen Kriegsverbrecher und Naziaktivisten Vorsitzender Richter gewesen. Man warf ihm vor, er habe Unschuldige zum Tode verurteilt. Mit Hilfe seines Anwalts kam er für kurze Zeit aus der Untersuchungshaft frei. Um den Richtern nicht die hämische Genugtuung an „seiner langsamen und qualvollen prozessualen Hinrichtung“ zu ermöglichen, beschlossen er und seine Frau aus dem Leben zu scheiden. Im Abschiedsbrief hieß es: „Meine Frau würde eine Trennung von mir nicht überstehen. Ich versichere Ihnen, dass wir in meiner Strafkammer nur Kriegsverbrecher verurteilt haben und ich bin mir sicher, dass wir uns über kein Urteil schämen müssen. Alle Zeichen deuten aber darauf hin, alles ins Gegenteil zu verkehren und in einem Schauprozess mich zum Verbrecher zu stempeln. (…) Heute, nach einer langen Periode der Naziverbrechen, fühlen sich doch alle – und sind sie auch noch so schwer belastet – als völlig unschuldige Menschen. Die Verdrängung ging und geht ja so weit, dass Auschwitz als Lüge hingestellt wird.“ Am 13. Februar um 23.15 Uhr sprangen Otto und Martha Fuchs vom Balkon ihrer Wohnung aus dem siebten Stock in den Tod. Im Prozess gegen den mit angeklagten 87-jährigen Otto Jürgens musste das Tribunal die Mordanklage fallen lassen. Schließlich wurde ein reines Gesinnungsurteil verhängt und der Angeklagte zu zwei Jahren Haft auf Bewährung, 6.000 DM Geldstrafe und zur Übernahme der Verfahrenskosten verurteilt. In seinem Schlusswort sagte Otto Jürgens, der bereits 1933 von der Gestapo verhaftet und gefoltert worden war: „Die Naziverbrecher, die in Waldheim abgeurteilt wurden, hatten ihre Strafe mehr als verdient.“ 2
Anmerkungen:
1 Kinkel am 23. September 1991 auf dem 15. Deutschen Richtertag: „Ich baue auf die deutsche Justiz. Es muss gelingen, das SED-System zu deligitimieren (…), das unter dem Deckmantel des Marxismus-Leininismus einen Staat aufbaute, der in weiten Bereichen genauso unmenschlich und schrecklich war, wie das faschistische Deutschland“. In: „Deutsche Richterzeitung, Nr. 1/1992.
2 Hier sei daran erinnert, dass Gregor Gysi zu denen gehörte, die die von westdeutscher Seite erhobenen Anschuldigungen, es habe „Fehlleistungen“ bei der „Bewältigung der Vergangenheit“ gegeben, aufgriff und behauptete, dass auch in der DDR der „Umgang mit Nazikriegsverbrechern einer kritischen Analyse“ bedürfe. „Bei den sogenannten Waldheimprozessen, in deren Verlauf von der UdSSR übergebene Nazis in Schnellverfahren verurteilt wurden“ habe es „erhebliche rechtsstaatliche Defizite“ gegeben. Siehe Beitrag „Wer war/ist Gregor Gysi undwelcheRolle spielte er in den 1989/90 einsetzenden Ereignissen, die letzten Endes zum Untergang der DDR führten“, Weltexpress 1. Juli 2025.
Demnächst zum Abschluss der Spurensuche: Mit der DDR fielen die Schranken. Seit ihrer Liquidierung geht von deutschem Boden wieder Krieg aus.
Siehe die Beiträge
- Spurensuche zum Untergang der DDR – Lothar Bisky ein waschechter Opportunist von Gerhard Feldbauer
- Spurensuche zum Untergang der DDR – Hans Modrows „Deutschland einig Vaterland“ stellte faktisch die DDR zur Disposition von Gerhard Feldbauer
- Die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion – Was sie war und wohin (wohin) sie führte von Gerhard Feldbauer
- Auf Spurensuche – Wer war/ist Gregor Gysi und welche Rolle spielte er in den 1989/90 einsetzenden Ereignissen, die letzten Endes zum Untergang der DDR führten von Gerhard Feldbauer
- Spurensuche zum Untergang der DDR – Wie Geheimdienstchef Markus Wolf sein Schärflein dazu beitrug von Gerhard Feldbauer
im WELTEXPRESS.
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Der Beitrag steht leider – oder auch folgerichtig zum System – im Schatten, weil er bourgeoisklassenentlarvend ist. angemerkt sei, daß diese Anklage als Teil einer komplexen Wahrheit auch zu finden ist in: „Die Stunde der Opportunisten – Über die Umbrüche in der SED-PDS 1989/90“, Taschenbuch, 2023 bei Amazon von Gerhard Feldbauer.
Mir persönlich gingen beim nun wiederholten Lesen die folgenden Zeilen einer Arie aus der Oper La Traviata von Guiseppe Verdi als verinnerlichter Bezug durch den Kopf:
La Traviata für Millionen?
»Hat dein heimatliches Land
Keinen Reiz für deinen Sinn …
Wer zerriß das schöne Band,
Das dich zog zur Heimat hin?«
Liebe, Leben, Freundschaft, Glück
– was ermöglicht dir, geschenkt –
Gabst voll Torheit du zurück,
So, daß heut dich Krieg bedrängt.
Soll das Drama sich vollenden?
Es ist wahr und kein Roman.
Mit dem Kopf wie mit den Händen
Wehr dich vor dem Größenwahn!
Menschbesinnung: sich vereinen
Gegen Ausbeutung und Lug.
Du mußt dies System verneinen,
Sei’s mit Zirkel, Hammer, Pflug.