Das vergessene Kind – Bewegender „Don Carlos“ im Deutschen Theater

Katrin Wichmann als Elisabeth in Don Carlos im Deutschen Theater. © Foto: Arno Declair, 2015

Wo kämen wir denn hin, wenn wir unter den Augen von Kindern Politik machen würden und Kindern gar noch Fragen dazu erlaubten? Schließlich haben wir ein Recht darauf, ihr künftiges Leben mit unseren Zukunftsplanungen zu vermurksen.

Von der Frage der Infantin, eindringlich und klug gestellt, bleibt auf der Bühne nur eine kleine, leicht zu übersehende Europafahne. Hier agieren Menschen im Outfit unserer Zeit, die Texte eines vor 228 Jahren uraufgeführten Stücks so artikulieren und mit Leben erfüllen, dass Vergangenheit und Gegenwart ineinander fließen.

Stefan Kimmig hat mit seiner Inszenierung großes SchauspielerInnentheater ermöglicht. Die Interpretation der Rollen folgt nicht einem starren Regiekonzept sondern den Fähigkeiten der AkteurInnen, die hier Höchstleistungen erbringen, weil sie das, was sie am besten können, in ihre Darstellung einbringen.

Am überraschendsten ist Elisabeth. Katrin Wichmann scheint so gar nicht in die Rolle der Königin zu passen, die von Prinzessin Eboli als Heilige bezeichnet wird und in vielen Inszenierungen nur als farblose Randfigur erscheint. Katrin Wichmann ist alles andere als das. Sie interpretiert Elisabeth als Revolutionärin und als emanzipierte Frau ohne dabei das Stück zu sprengen. Mit dieser Frau an seiner Seite hätte Carlos seine idealistischen Ziele verwirklichen können.

Um das zu verhindern hat König Philipp dafür gesorgt, dass Elisabeth ihn heiratete und nicht, wie zunächst vorgesehen, seinen Sohn. Die Gefahr, die der charismatische Thronfolger für Philipps Macht bedeuten könnte, schafft der König aus der Welt, indem er Carlos beschäftigungslos an seinem Hof festhält, in unmittelbarer Nähe zu Elisabeth, aber mit dem Verbot, der immer noch geliebten Frau zu begegnen.

In Kimmigs Inszenierung ist der Nutzen einer umfassenden Überwachung sehr deutlich herausgearbeitet. Gerade das Ausspähen des Privatlebens erweist sich als hervorragendes Mittel, um Menschen in gefügige Untertanen zu verwandeln.

So ergeht es Prinzessin Eboli. Kathleen Morgeneyer gestaltet sie als zunächst fröhliche, vielleicht ein bisschen oberflächliche junge Frau. Sie verliebt sich leidenschaftlich in den edlen Prinzen und, aufgrund von Missverständnissen und Intrigen, muss sie glauben, dass Carlos ihre Gefühle erwidert.

Die Prinzessin wird jäh aus ihrer Liebesseligkeit herausgerissen und findet sich als Verschmähte in einer höchst peinlichen Situation. Während sie noch ganz unter dem Eindruck der bitteren Enttäuschung und Demütigung nach Rache dürstet und von Zorn, Schmerz und Selbsthass erfüllt ist, sind die Späher des Königs schon da, tröstend und vereinnahmend.

Eigentlich ist diese Eboli gar nicht raffiniert oder verrucht und schon gar keine Intrigantin. Aufgrund einer Ausnahmesituation verliert sie den Kopf, gerät in die Fänge der Überwachungsmaschinerie und wird so zur Verräterin an ihrer Königin und zum Sexobjekt des Königs. Als sie wieder klar denken kann, bereut sie, was sie getan hat und legt bei Elisabeth ein volles Geständnis ab.

Die Königin jedoch, diese warmherzige, anteilnehmende Frau, lässt ihre Hofdame einfach stehen, wendet sich von ihr ab, zündet sich eine Zigarette an und blickt, an einen Pfeiler gelehnt, dem Rauch nach, so als habe sie erkannt, dass ihr Gemahl ihre Loyalität nicht verdient.

Kostümbildnerin Anja Rabes hat die Sonderstellung Elisabeths durch ihre elegante Kleidung mit langem schwarzem Rock hervorgehoben, während die übrigen Mitwirkenden sich in Business- oder Freizeitgarderobe präsentieren.

Andreas Döhler als Marquis Posa kommt in verwaschenen Jeans daher, versieht Schillers Sprache mit Berliner Akzent und ist, mit seiner naiven Aufrichtigkeit in der eiskalten höfischen Atmosphäre von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Dieser Posa ist unfähig zu Betrug und Verstellung, und ließe Carlos sich nicht allzu leicht zu vorschnellen Urteilen hinreißen, würde er in keinem Augenblick an der Treue seines Freundes zweifeln können.

König Philipp hingegen wittert die Chance, seinem Sohn nach der Frau nun auch den Freund auszuspannen. Ulrich Matthes, mit schulterlangem Haar und Bart, gibt den Monarchen als müden alten Mann, der jedoch nicht an Rücktritt denkt und kein Mittel scheut, um seine Macht zu verteidigen.  Zweifellos quält ihn seine Einsamkeit, aber das gelegentlich aufkommende Mitleid mit ihm schwindet schnell wieder, wenn der anscheinend so kraftlose Mann seiner Frau heftig ins Gesicht schlägt. Zu der Freundschaft, die er sich mit Marquis Posa wünscht, wäre dieser um sich selbst kreisende, in Rangordnungen denkende Monarch ganz sicher nicht befähigt.

Im Gegensatz zu seinem kalt berechnenden Vater wird Carlos völlig von seinen Gefühlen beherrscht. Alexander Khuons Prinz ist ein energiegeladener Held, der wie ein eingesperrtes Tier gegen die Gitterstäbe rennt ohne einen Ausweg aus seinem Käfig zu finden. Zum Nichtstun verurteilt, erschöpft er seinen Körper durch sportliche Betätigung, Liegestütze, Seilspringen, Schattenboxen, und denkt trotzdem unentwegt an Elisabeth. Nur mit ihrer Hilfe gelingt es Posa, den Freund aus seinem Schneckenhaus zu locken und ihn wieder für seine politische Aufgabe zu interessieren.

Die Szenen mit Katrin Wichmann, Kathleen Morgeneyer, Andreas Döhler und Alexander Khuon sind lebendig, voller Spannung und Emotionen. Wenn König Philipp, Alba und Domingo erscheinen, wird die von ihnen ausgehende Kälte spürbar. Es ist, als könnten sie die Zeit anhalten, so dass jede Hoffnung auf Veränderung erstirbt.

In der drei Stunden und 45 Minuten dauernden Inszenierung ist nur wenig von Schillers Text gestrichen, aber die Zahl der handelnden Personen ist erheblich reduziert. Von den vielen Granden und Beratern am Königshof treten nur Herzog Alba und Domingo in Erscheinung als infernalisches Duo. Während Jürgen Huth als Domingo sich bei erkennbarer Verlogenheit verbindlich zeigt, ist Henning Vogts Alba elegant, aalglatt und unverstellt bösartig. In einer physischen Auseinandersetzung mit Carlos, die zunächst wie ein Spiel aussieht, setzt Alba unfaire Mittel ein, um zu gewinnen.

Unsichtbar scheinen eine ganze Menge Spione in dem Bürokomplex zu lauern, den Katja Haß entworfen hat. Hier ist alles in klinischem Weiß gehalten, von Neonröhren beleuchtet. Es gibt keine Bilder, keine Pflanzen, selbstverständlich keine lauschigen Winkel, aber genügend Verstecke hinter den Pfeilern und Türen oder auf den nach unten, vielleicht zu den Folterkellern, führenden Treppen. Die Bühne dreht sich langsam, präsentiert fast aufdringlich dieses lebensfeindliche Ambiente. Bei den Konferenzen des Königs, der auf einem Bürostuhl Platz nimmt, entsteht durch das Herunterlassen von Jalousien ein kleiner Raum, eine Zelle im Eispalast.

Wirkungsvoll hat Stephan Kimmig die Szene zwischen dem König und dem Großinquisitor an den Schluss des Stücks gestellt. Barbara Schnitzler verkörpert den kirchlichen Höllenfürsten auf High Heels und mit strengem Kostüm. Es erweist sich, dass es auch für Philipp eine höhere Macht gibt, vor der er zu Kreuze kriecht.

Mit ein paar leisen, in scharfem Ton gesprochenen Worten wird alles zunichte gemacht, was vorher in hoffnungsvollen Plänen zum Ausdruck gekommen war, oder in dem ausgelassen begeisterten Tanz der Königin mit Marquis Posa oder dem leidenschaftlichen Kuss zwischen Elisabeth und Carlos. Der Prinz wird nicht als Heros der Königin ausziehen, um Europa Frieden zu bringen. Posas Opfer war sinnlos.

Mit diesem „Don Carlos“ sind Stefan Kimmig und sein hervorragendes Schauspielensemble sehr nah an Schiller, und auf eine packende und anrührende Weise, sehr nah am Heute.

„Don Carlos“ von Friedrich Schiller hatte am 30.04. Premiere im Deutschen Theater. Nächste Vorstellungen: 19. und 29.05.2015.

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