Klar also, daß viele gekommen waren, die am Schluß meinten, es sei noch spannender gewesen, als gedacht. Das liegt ganz einfach daran, daß Snejanka Bauer ihr Wissen um diese Zusammenhänge mit den Ikonen nicht lehrerhaft ausbreitete, sondern die Leute wie in einem Krimi mit auf die wissenschaftliche Reise nahm. Die fing mit der Ikone eines hundsköpfigen Heiligen an, die mit Hl. Christophoros Kynokephalos beschriftet ist: „Ein seltsames Wesen, halb Tier, halb Mensch, das von Christus die menschliche Sprache verliehen bekommen hatte, die Menschen zu bekehren und Christi Namen trug“.
Den Heiligen Christophoros kennt doch jeder, der oft an Kirchenwänden hünenhaft übers Wasser stapft und das Jesulein trägt. Daß er im byzantinischen Einflußgebiet allerdings mit einem Hundekopf dargestellt wird, hat mehrere Gründe. Einer ist die regionale Nähe zu Ägypten und damit zum Anubiskult. Ein anderer die seit dem 5. Jahrhundert bekannte Legende vom Volk der Kynokephalen, dem der Hundsköpfige entstammen soll. Aber im Westen wurde etwas ganz anderes daraus. Man hielt den griechischen Begriff in der lateinischen Form ’canineus’ (Hund) für einen Schreibfehler und machte einfach ’Chanaeus` daraus, was ’der aus Kanaan` bedeutet. „Auch die Bezeichnung ’Christophoros`, bei der es sich nicht um einen Eigennamen, sondern um eine Ehrenbezeichnung für Christen handelte und die auf das Christsein, also Christus-in-sich-tragen verwies, wurde – in Anlehnung an Prozessionen, bei denen man die Träger der Götterbilder als ’Gott-Träger` bezeichnete – in Christus–auf der-Schulter-tragen umgedeutet.“, vertiefte Snejanka Bauer unser Wissen. Dies ist nämlich nur ein Beispiel dafür, wie uns heute Wohlbekanntes verfälscht wurde aus dem originalen Zusammenhang und zu reiner Phantasie wurde, aber von uns als ’echt` angesehen wird.
Unglaublich, aber wahr, dann die Zusammenhänge mit den Chagallschen Pferdeköpfen, die das gleiche Gestaltungsprinzip wie diese Art der Ikonen besitzen: der Körper ist in Frontalansicht gegeben und der Kopf im Profil, meist geneigt, nach oben oder nach unten, wie es auch der nackte, das Cello spielende Frauenkörper mit dem Pferdekopf in „Commedia dell’Arte“ von Marc Chagall, 1959 für das Frankfurter Opernhaus geschaffen, aufzeigt. Frau Bauer verwies auf weitere Beispiele bei Chagall – unglaublich ähnlich „Die Frau mit dem Tierkopf“ von 1927 -, die seine gute Kenntnis russischer Ikonen aufzeigen, auch wenn er selbst diese Herleitung abstritt, zeigen die Beispiele doch, daß derartige Phänomene längst im kulturellen Gedächtnis der Russen eine Heimat hatten und auch in den alten Volksbilderbögen (Lubki) eine Rolle spielten, aus denen – unbewußt – auch ihre Künstler schöpfen.
Auf so einem Lubok war auch Julia Postrana abgebildet, die aus Mexiko nach Europa gezerrt, hier bestaunt wurde, weil sie am ganzen Körper behaart war. Mischwesen glaubte man vor sich zu haben, denn den Abnormitäten des menschlichen Körpers galt im 19. Jahrhundert auch deshalb solches Interesse, weil man sie immer wieder als Missing Link zwischen Mensch und Tier ansah, zugespitzt in Darwins Theorie der Abstammung des Menschen von dem Affen. Snejanka Bauer brachte viele Bildbeispiele aus der Neuen Welt und anderen Erdteilen, die alle darauf hinausliefen, Menschen tierische Eigenschaften anzusehen oder Tieren menschliche Eigenschaften zu unterstellen.
Wie alt diese Phänomene sind, davon zeugen die Schriften der Alten, mindestens seit den Griechen. Fröhlich Urstände feierten diese Verklausulierungen in Zeiten, wo die politische Herrschaft derbe Zensur ausübte und man vieles Allzumenschliche nur noch in Tiergestalt ausdrücken konnte. Umgekehrt aber hat beispielsweise schon 1586 Giambattista della Porta Abweichungen von einem festgelegten menschlichen Schönheitsideal in Gesichtern tierische Formen angedichtet, die noch dazu negative Aussagen über den Charakter dieser Menschen machen sollten. In dieser Lesart ist ein Hundsköpfiger ein lästiger, vielleicht sogar verlauster Zeitgenosse.
Nicht weit davon die Sammlung von Bestiarien – ein besonders bekanntes von Kaiser Rudolph II. aus Prag. „In diesem Katalog wurden die Irrtümer der Natur mit Beispielen menschlicher Mißbildungen veranschaulicht.“, so die Vortragende. Insbesondere Tongina, ein behaartes Mädchen aus Italien mußte im 16. Jahrhundert dafür herhalten und als Monstrum öffentlich auftreten. Dabei und das hätte den Arzt Schmidt-Voigt besonders interessiert, litt sie an der vom Vater geerbten Hypertrichose. Warum der Mensch das vermeintliche Menschenabweichende sowohl herausstelle wie auch ablehne und wie sehr Künstler damit ’spielen`, damit endete dieser faszinierende Vortrag von Snejanka Bauer, der technisch hochgerüstet mit gleich drei Apparaturen die Bildbeispiele zum Mittelpunkt hatten. Dabei war verläßlicher Helfer der Leiter des Ikonenmuseums Richard Zacharuk, dessen Wirken wir wieder einmal aus der Rückhand erleben konnten. Denn das tut auch nicht jeder Direktor, daß er den Frauen seiner Institution solche Darstellungsmöglichkeiten gibt. Das war ein beeindruckendes Jubiläum zum 20. Geburtstag des Frankfurter Ikonenmuseums.
Jörgen Schmidt-Voigt. Mediziner, Musiker und Mäzen (1917-2004), hrsg. von Snejanka Bauer, Legat Verlag 2010
Hilmar Hoffmann, Erinnerungen, Hoffmann&Campe, als Taschenbuch bei Suhrkamp
Verweis auf die von Schmidt-Voigt herausgegebenen Bücher zu Ikonen und Medizin und die Ausstellungskataloge sowie das Programm in www.ikonenmuseumfrankfurt.de