Sigmund Freud zu Besuch beim Struwwelpeter und Marianne Leuzinger-Bohleber – Serie: Zum Zweihundertsten Geburtstag: der Heinrich Hoffmann Sommer 2009 in Frankfurt am Main (Teil 11/10)

Der Anti-Struwwelpeter von F. K. Waechter.

Wir schrieben den Artikel über den Vortrag flugs am nächsten Tag, fanden dann aber, daß er erst als dritter Teil der auf zehn Artikel konzipierten Heinrich Hoffmann Reihe erscheinen sollte, weil zuerst einmal die Figur dieses sagenhaften Struwwelpeter Autors hatte vorgestellt werden sollen. So geschah es. Er erschienen die Nummern 1/10 und 2/10. Danach kamen diverse Pressereisen, der fertige Artikel wurde vergessen, andere als Nummer drei, vier und fünf geschrieben und veröffentlicht, bis Herr Freud die Erinnerung an unseren Artikel in uns wiederauftauchen ließ. Aber damit war der Artikel dennoch nicht verfügbar. Er war verschwunden und in sämtlichen Rechnern und auf allen USB-Sticks war er nicht aufzutreiben. Also schrieben wir weiter die Artikel, bis zum letzten der zehnteiligen Serie und hofften auf die Vorsehung, der den verlorenen Artikel wieder auftauchen ließ, waren allerdings längst der Meinung, wir hätten nur ein Träumli gesehen.

Dann hatten wir einen Experten im Haus und der fand den verlorenen Artikel sofort. Er war falsch abgespeichert, war die logische Erklärung. Wir aber glauben fest an eine psychologische, ja psychoanalytische Erklärung und berufen uns auf Sigmund Freud, der zum Verlieren, Verlegen, Verschwinden und Vergessen uns den Weg des Verdrängens gewiesen hat. Es gibt also Gründe, warum der Artikel, verschwand, vergessen und dann nicht gefunden wurde. Die Gründe sind der Schreiberin auch offensichtlich. Sie war von diesem Abend, dem Vortrag der sonst so geschätzten Professorin und des rigide vorgebrachten Verbots, die vorgetragenen Thesen diskutieren zu können, tief enttäuscht. Schließlich ging es ja um das Wesentliche, nämlich, ob der Struwwelpeter Kindern nützt oder ihnen schadet. Da wir der Meinung sind, daß Nutzen oder Schaden keine Grundsatzfrage ist, sondern abhängig ist von der psychischen Stabilität, in der Kinder groß werden, waren wir auf die Argumente zur grundsätzliche Ablehnung, bzw. Gefährdung für Kinder gespannt. Und die kamen nicht. Aber jetzt original der am 30. April 2009 geschriebene Bericht vom Vorabend.

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Als Auftakt des intellektuellen Teils des Heinrich Hoffmann Sommers kann dieser Abendvortrag an der Frankfurter Goethe-Universität gelten, den die Psychoanalytikerin Marianne Leuzinger-Bohleber, Sigmund-Freud-Institut und Universität Kassel am 29. April hielt, dessen Titel „Struwwelpeter: Eine Fundgrube unbewußter Wünsche und Ängste von Kindern“ erst einmal keine Festlegung trifft, ob es nun aus psychoanalytischer Sicht gut oder schlecht ist, kleine Kinder mit handfesten Strafen zu konfrontieren, wenn sie den Ermahnungen der Eltern nicht folgen. Denn das, was 1968 widersprüchlich am Umgang mit Märchen als schädlich oder positiv für den Erziehungsprozeß von kleinen Kindern diskutiert wurde, ob sie die Ängste erst produzieren – die sogenannte Schwarze Pädagogik – oder vorhandene abbauen, kann auch der Struwwelpeter leisten und heute – ganz aktuell, wenngleich zugespitzter und auch mit andere Psychostruktur – die Diskussion darüber, ob Gewaltspiele für Kinder und Jugendliche deren Aggressionspotential steigern oder abbauen oder überhaupt nicht tangieren.

Nach ihrer Auflistung des STRUWWELPETER in der 546. Auflage als größter Erfolg, den je ein Kinderbuch erreichte, fragte die Vortragende: „Woher kommt dieser Erfolg?“ und gibt die Antwort gleich mehrfach. Sie zeigt sich fasziniert von der Möglichkeit dieses Autors Hoffmann, sich im 19. Jahrhundert in Kinder und ihre Symbole hineinzuversetzen und die gefundene Sprache auch im Bild zu benutzen und kann sich das nur so erklären, daß Heinrich Hoffmann tatsächlich über besondere Fähigkeiten verfügt habe. Das gelte auch für die Auswahl der einzelnen Unarten, die Heinrich Hoffmann als Falldarstellungen ihrer Gefahren und üblen Ausgänge brachte, wenn ein Kind in seinem Tun einfach weitermache. Schon Georg Groddeck – der Erfinder des Es, das Sigmund Freud dann weitertrug – rühmte an Hoffmanns Werk die unbewußte Darstellung der infantilen Sexualentwicklung. Der wichtigste Entwicklungsschritt sei, daß Kinder auf eigene Wünsche verzichten lernen und die Regeln und das vernünftigen Handeln der Erwachsenenwelt antizipieren und sich danach richten.

Die Themen der Struwwelpetergeschichten: Alleinsein, Verwahrlosen, ungezügelte Aggression sind allgemeine Ängste und beim fliegenden Robert sind die Allmachtsphantasien die von allen Menschen, aber auch Fremdenhaß und rassistischen Verhalten, Umkehr der Machtverhältnisse, das Verhältnis zum eigenen Körper, Körperphantasien, Anexorie oder Bulimie sind schon damals von Heinrich Hoffmann angesprochen worden. Diese Thematiken finden sich in der Traumageschichte wieder. Aber auch noch hundert Jahre später im Nationalsozialismus funktionierten die unbewußten und bewußten Bilder und Geschichten. Gerade deshalb hält die Referentin diese unbewußten Bilder für kleine Kinder zwischen drei und sechs Jahre für zu gefährlich und will diese Geschichten von dieser Altersgruppe fernhalten. Dies drückt sie zwar aus, aber läßt nun die Folgerungen links liegen, worin genau der Schaden besteht, den Kinder erleiden, wenn sie den Struwwelpeter vorgelesen erhalten, wie dieser Text also in der Psyche wirkt. Das Unbewußte bleibe entscheidend. Unbewußte Phantasien enthalten immer einen ganz spezifischen durch die eigene Lebensgeschichte geprägten Inhalt als auch eine Komponente, die bei allen Menschen aller Kulturen mehr oder weniger in ähnlicher Form und ähnlichen Inhalten anzutreffen sind. Die Psychoanalyse erklärt dies mit Körperphantasien.

Der Struwwelpeter weigert sich, die gesellschaftlichen Konventionen zu befolgen. Das bleibt die Jugend hindurch das bestimmende Thema sozial abweichenden Verhaltens: „Pfui ruft da ein jeder”¦“, wie gesellschaftliche Sanktionierungen ablaufen und wirken. Über 165 Jahre wirkt das schon und hat sich nicht verändert. Der Suppenkaspar befindet sich in existentieller Abhängigkeit vom eigenen Körper. Der etwas Dickliche ringt um die Autonomie seines Körpers, er muß den Körper in der Pubertät selbst in Besitz nehmen, der vorher der Mutter gehörte, das endet in Anexorie und Bulimie, was wir erst heute als extreme Reaktion kennen und als Krankheitsbild benennen.

Paulinchen ist nicht in der Lage, die Verantwortung für ihr Leben in die Hand zu nehmen. Sie gibt sich dem gefährlichen Spiel hin und mißachtet die Warnungen der aufmerksamen Katzen. Die Funktion der Katzen wird hier nicht gedeutet. Um einen verantwortungsvollen Umgang mit Gefahren gehe es: Miau, mio”¦Heute gilt in Fachkreisen, daß Kinder aufgrund emotionaler Verwahrlosung nicht mehr in der Lage sind, Gefahren für sich und andere wahrzunehmen. Allerdings –so meinen wir – geht es ja hier angesichts des gutbürgerlichen Ambientes von Paulinchen eher um deren Allmachtsphantasien oder einfach die kindliche Lust, Verbote zu übertreten. Die Geschichte vom Friederich, dem Wüterich ist auch beispielhaft. Kinder sind in diesem Alter potentiell grausam, erst wenn sie nachempfinden können, daß auch der Hund Schmerzen empfindet, könnten sie ablassen vom „bitterbösen Friederich“.

Die Geschichte vom Daumenlutscher sieht Frau Leuzinger-Bohleber im Kontext, wenn im Alter von 3-4 Jahren Geschlechtsunterschiede erkannt werden; das seien irritierende Erfahrungen, daß den Mädchen der Penis abhanden gekommen ist, eigene potentielle Verlusterfahrungen der Jungen führten zum Daumenlutscher und der Schere, das Abschneiden der Daumen sei dann ein Surrogat. Kastrationsängste führten im Gegensatz zu den Märchen und ihren unbewußten Strategien beim Struwwelpeter nicht zum Happy End wie die böse Hexe bei Hänsel und Gretel, die am Finger das Fettwerden ihrer Beute Hänsel überprüft, aber dann von diesem in den Ofen geschoben wird. Hier beim Daumenlutscher wird der Daumen abgeschnitten und die Erwachsenen sind die Vollstrecker.

Zappelphilipp erführe in archaischer Qualität eine sadistische Erziehung, eine Unterwerfung unter die Autorität. Im „Törleß“ habe Robert Musil diesen Mechanismus beschrieben. Am Zappelphilipp kann man das Aufmerksamkeitssyndrom der Hyperaktivität, die Störung der Aufmerksamkeit, ADHS studieren. Im Gegensatz zu Hoffmanns Lehren einer moralischen Bestrafung werde solchen Kindern in der Hoffmannschen Manier nicht geholfen. Die moralische Keule helfe solchen Kindern nicht, sondern bewirkt das Gegenteil. Der andere Weg sei der richtige, was ein Beispiel von heute beweisen sollte. Den Zappelphilipp gibt es doch auch ohne große Störung, meinen wir, einfach, um den Bewegungsdrang auszuleben, den gerade Kinder in der Großstadt unter Verschluß halten müssen, weil sie nicht wie Kinder früher auf der Straße groß werden können, sich im Fußballspielen beweisen und einfach Kräfte messen können und zwar nicht in organisierten Vereinen, sondern in der Eigenorganisation von Kindern und Jugendlichen, die dann auch lernen, sich Regeln zu geben, die aus der Sache resultieren und nicht von Erwachsenen oktroyiert werden. So lief der Vortrag aus, der nicht diskutiert werden konnte, und an dem wir vermißten, daß Gründe genannt würden, die erklären, daß der Arzt, Psychiater und Vater Heinrich Hoffmann ein solch erstaunliches Buch wie den Struwwelpeter hat schreiben können, in dem schon 1844 Störungen kindlicher Psyche oder einfach Ungezogenheit in Falldarstellungen wie von heute vorgedacht wurden.

P.S.: Als ob es noch eines Beweises bedurft hätte für die obige Behauptung, daß es mit diesem Artikel nicht mit rechten Dingen zuging: Auch dieser obige Artikel mit der Ergänzung gegenüber der erst einmal nicht gefundenen, dann aber aufgefundenen Urfassung vom 30. April war im System von Rechnern und USB-Sticks verschwunden, als er abgeschickt werden sollte. Erneut mußte derselbe Experte danach schauen und auch er, ein Mann der Technik, hielt anschließend unsere Interpretation der psychoanalytischen Begründungen für das Abhandenkommen im System für sinnreich, denn er fand den Artikel sofort. Violí !

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Info: Marianne Leuzinger-Bohleber kommt aus Zürich, ist seit 1988 an der Universität Kassel und auch stellvertretende Direktorin des Sigmund Freud-Institutes in Frankfurt.

Im Struwwelpeter Museum:

„Das Weihnachtsgeschenk. Struwwelpeters Entstehung

Ausstellung bis 30. Mai 2010

Hauptausstellung im Historischen Museum: bis 21. September 2009

Katalog/Begleitbuch: Heinrich Hoffmann – Peter Struwwel.“ Ein Frankfurter Leben 1009-1894., hrsg. von Wolfgang P. Cilleßen und Jan Willem Huntebrinker , Michael Imhof Verlag 2009

Das Begleitbuch zur Ausstellung wird das sein, was weiterwirkt. Was von diesem Heinrich-Hoffmann-Sommer außer lustvollem Beschäftigen mit dem alten Frankfurt, den alten Zeiten und den klugen und modernen Köpfen von damals in Papierform bleibt, damit man sich, wenn die Ausstellungen vorbei sind, sich all das wieder hervorholen kann, was dieser Sommer an Erkenntnis brachte. Daß wir nicht so weit – immerhin – als Gesellschaft gekommen wären, wenn es nicht solche Bürger, Neugierige, Sich Einmischende, das Gegebene nicht Hinnehmende gegeben hätte, wie Heinrich Hoffmann einer war.

Hier wird von sehr viel verschiedenen Autoren der jeweilige Lebensabschnitt oder der lebensgängige Schwerpunkt aufgearbeitet, so daß aus dem Buch über Heinrich Hoffmann flugs auch ein Kompendium über das Frankfurt des 19. Jahrhunderts wird. Ein notwendiges Lesebuch für jeden Frankfurter Haushalt. Für die Schulen sowieso.

Ausstellung im museum caricatura frankfurt: bis 20. September 2009

Katalog: Ja, es gibt ein Buch, das zur Ausstellung gehört. Nein, das läuft umgekehrt. Das von Fil und Atak beim Verlag Kein & Aber herausgebrachte Buch „Der Struwwelpeter“ ist die Grundlage, denn hier im Museum hängen dessen Originalzeichnungen von Paulinchen und den anderen Unhelden, mache richtig schön groß, und wenn man sich in die hineingeschaut hat, dann nimmt man auch gerne das Buch als Erinnerung, oder zum Weiterlesen, oder als Geschenk mit.

www.hoffmann-sommer.de
www.struwwelpeter-museum.de
www.frankfurterbuergerstiftung.de
www.historisches-museum.frankfurt.de

Gängige Struwwelpeterausgaben: Der Struwwelpeter. Mit einem Nachwort von Peter von Matt, Reclam, Stuttgart 2009
Der Struwwelpeter, Schreiber, Esslingen 1992
Neue Bücher über Heinrich Hoffmann
Heinrich Hoffmann „Dukatenbilder“, hrsg. von Marion Herzog-Hoinkis und Rainer Hessenberg, Inselverlag 2009, Insel-Bücherei Nr. 1314
Heinrich Hoffmann „Allerlei Weisheit und Torheit“, hrsg. von Marion Herzog-Hoinkis und Helmut Siefert, Mabuse Verlag 2009

Hinweis: Bis zu seinem Todestag am 20. September werden in Frankfurt viele Ausstellungen diesen Heinrich Hoffmann Sommer begleiten, über die wir berichten.

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