Sieben auf einem Seil. Ein herrlicher ephemer Augenblick – Der Tigerpalast Frankfurt eröffnet mit „Le Fil Sous La Neige“ das Phänomen Expressionismus der Kulturfonds Frankfurt Rhein Main

Ausnahmekünstler beim "Seiltanz"

Es geht um den Seiltänzer Antoine Rigot, dem nicht das Seil, sondern ein lächerlicher Unfall am Strand zum Verhängnis wurde. Teillähmung und Ende der anspruchsvollen Karriere. Im Bockenheimer Depot, einer der herrlichen Relikte aus der Industriearchitektur, tatsächlich war es ein Straßenbahndepot, eröffnete der Tigerpalast Frankfurt mit dieser Vorstellung, täglich bis zum 29. August, auch das Projekt „Phänomen Expressionismus“ der Kulturfonds Frankfurt Rhein Main. Dazu gleich mehr. Wie im griechischen Theater waren auf vier Seiten ansteigende Tribünen hineingestellt, in deren Mitte im Halbdunkeln mit gezieltem Lichteinsatz und eigener Kapelle, auch Musik aus dem Lautsprecher die Seile kreuz und quer und auf unterschiedlichen Höhen bis zu 3, 50 Metern gezogen waren. Wir haben mehr als zehn gezählt, wenn man die Aufgänge mitzählt, auf denen die Tänzer am Schluß herunterrutschten oder stöckelten oder edel gingen. Auf Französisch beginnt Rigot und eine deutsche Sprecherin erzählt kurz die Unfallgeschichte: „Der Körper war da, aber er war verschwunden. Zwanzig Jahre war ich Seiltänzer.“

Auswickeln läßt sich die erste Seiltänzerin. Stellen Sie sich vor, Sie müßten ein um den Körper geschlungenen breiten Schal abwickeln. Sie würden sich im Kreis drehen und eh schwindelig werden. Die Tänzerin geht vor, dreht sich zurück, geht wieder vor, dreht sich zurück, während ihre Kollegin auf der Seite das abgewickelte Tuch hält, mit dem sie dann im Schleiertanz ebenfalls auf einem der Seile entlang hupft, springt, purzelt, Spagate macht, sowohl auf dem Seil (!!) wie auch in der Luft und dann mit den Beinen wieder auf dem Seil landet, zu denen die Tänzer dann noch Salti beitragen. Die insgesamt sieben Tänzer, vier Frauen und drei Männer, davon drei im Rock und vier in Hosen, sind völlig unterschiedliche Charaktere, denkt man, und sie sehen auch völlig unterschiedlich aus. Da ist die Romantikerin, die Sinnliche, die Brave, der Macho, der Zärtliche, der Helfer, und schnell wird aus dem einen der andere und genauso schnell wird aus dem geschlechtlichen Spiel ein gleichgeschlechtliches oder auch autoerotisches.

Man kann in dürren Worten kaum wiedergeben, welche schwerelose Poesie da vor unseren Augen auf den Seilen tanzt, denn es sind solch emphemere Augenblicke, daß nur das Herz und das visuelle Gedächtnis sie bewahren können und unser schriftliches Zeugnis der Körperkunst der Sieben – Agathe Olivier, Molly Saudeck, Sanja Kosonen, Ulla Tikka, Florent Blondeau, Julien Posada, Andreas Muntwyler -, die hier in der Inszenierung von Antoine Rigot eine Choreographie der Lüfte auf dem Seil tanzen und zum ersten Mal in Deutschland zu sehen sind, was Margareta Dillinger zu verdanken ist, der künstlerischen Direktorin des Tigerpalasts, die ein untrügliches Gespür für die besonderen Künstler hat, sie aufspürt und zur Mitarbeit in Frankfurt begeistern kann.

Dieser Abend war aber nicht nur wegen der Seiltänzer so bedeutend, man müßte sogar sagen, die Seiltänzer waren wegen der Bedeutung des Abends da. Hier wurde nämlich erstmals Wirklichkeit, was seit Jahren beherzte Kulturaktivisten aus der Rhein Main Region erst gefordert, dann in die Tat umgesetzt und jetzt sogar vorzeigen konnten: die Kulturfonds Frankfurt Rhein Main. Der Weltexpress hatte die Gründung der Fonds in zwei Artikeln begleitet und an diesem Abend gab der Hessische Ministerpräsident einen kurzen Abriß der finanziell-organisatorischen Schwierigkeiten, die in einer Kulturabgabe von zwei Euro für jeden Bürger bestehen, und weswegen bis heute sich manche Gemeinde der Region und auch die großen Städten Darmstadt, Offenbach, Hanau und die Landeshauptstadt Wiesbaden noch nicht am Kulturfonds beteiligen.

Roland Koch äußerte sich aber auch inhaltlich zur Übereinstimmung des ersten Projektes „Phänomen Expressionismus“ mit dem Rhein Main Gebiet der damaligen und mit der heutigen Zeit. Für damals führte er vor allem den Komponisten Paul Hindemith und die Maler Ernst Ludwig Kirchner an und Alexej Jawlensky oder Ludwig Meidner und auch ihre Sammlerin Hanna Bekker vom Rath. Das ist ja richtig und daß Johnny Klinke, der spiritus rector der Gemeindebündelei als Varietedirektor des Tigerpalastes gleich Kirchners im Frankfurter Städel beheimatetes Bild „Varieté“ zum bedeutsamsten Gemälde der Sammlung stilisierte, sei ihm interessegebunden verziehen. Daß aber keiner der Redner – auch nicht der Frankfurter Kulturdezernent Felix Semmelroth – beim Thema „Phänomen Expressionismus“ auf den bedeutendsten Beiträger der Region, auf Max Beckmann, zu sprechen kam, ist mittlerweile schon ein systematischer Fehler, denn auch auf der damaligen Pressekonferenz zur Gründung der Kulturfonds Frankfurt Rhein Main wurde dieser weltbekannte Maler unterschlagen. Dabei hat Beckmann nicht nur in Frankfurt gelebt und eine Reihe herrlicher Stadtlandschaften gemalt – die meisten, bis auf den besonders gelungenen ’Eisernen Steg`, hängen im Städel – , sondern als Lehrender an der Städelschule seinen Schüler den Expressionismus mit auf den Weg gegeben, ehe ihn die Nationalsozialisten gleich im April 1933 aus dem Amt warfen, denn solche Malerei war ihnen ’entartet`. In Amerika wurde Beckmann dann der berühmteste deutsche Künstler des 20. Jahrhunderts.

Wäre eigentlich schön, wenn man das so sinnvolle „Phänomen Expressionismus“ nicht nur zum Vorzeigen dieser besonders existentiellen Kunst nutzte, sondern auch etwas über ihre Gegner sagte, die man ja besser als Vernichter bezeichnen muß, denn die einen der von den Nazis Verfolgten überlebten im Stillen und konnten nie wieder an ihre Erfolge anknüpfen, wie der wunderbare Otto Dix, dessen Familienporträt auch im Städel hängt, oder sie wurden ins Exil getrieben, wo nicht wenige, wie Ernst Ludwig Kirchner Selbstmord verübten, oder kamen in den Gaskammern um wie Felix Nußbaum in Auschwitz , von dem das Jüdische Museum Gemälde beizutragen hat. Von daher finden wir es eigentlich geradezu einen gelungenen Coup, daß die bisherigen Kulturfonds Frankfurt Rhein Main mit einem Thema wie dem „Phänomen Expressionsmus“ in dieser Region anfangen, denn die noch nicht am Projekt Beteiligten müssen ihren Bürgern nun erklären, wieso sie ein solches kulturelles Unternehmen nicht durch ihren eigenen Beitritt unterstützen, das einen Hindemith aus Hanau genauso würdigt wie einen Meidner aus Darmstadt oder Jawlensky aus Wiesbaden, drei Städte, die noch nicht dabei sind.

Weder Ministerpräsident Koch, noch Kulturfondsvorsitzender Heribert Beck, vormals Leiter des Städels, noch Initiator Johnny Klinke machten diesen Städten und Gemeinden bei dieser Eröffnung politischen Druck. Eher ging man nachsichtig mit denen um, die noch nicht verstanden haben, daß der Zug der Zeit gemeinsame Kulturregionen erfordert, will man zu Großberlin, zum Ruhrgebiet, zum Münchner Raum und anderen Kulturregionen aufschließen, wobei speziell für Johnny Klinke das die falschen Vergleiche sind, denn er sieht die Region in der kulturellen Champions Legua mit Barcelona, Paris, London, New York sowieso und fordert von daher seit Jahren diese Vereinigung im Rheinmaingebiet, damit genügend Geld da sei, auch Leuchttürme der Kultur hierher zu bringen. Mit der Seiltanzpoesie der „Le Fil sous La Neige“ hat er einen solchen Leuchtturm nach Frankfurt gebracht.

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Bis 29. August 2009

www.tigerpalast.de

www.phaenomen-expressionismus.de

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