Sie sind mitten unter uns – Franz Biberkopf trifft Leidensgenossen in der Schaubühne

Szene mit dem Chor aus dem Theaterstück "Berlin Alexanderplatz"

Auch das neue Stück basiert auf einem renommierten literarischen Werk, dem Roman „Berlin Alexanderplatz“. Von Alfred Döblins Text ist in der Bearbeitung nur wenig zu finden, aber es ist unverkennbar der Romanheld, Franz Biberkopf, der in der Schaubühne als entlassener Sträfling vergeblich versucht, wieder Fuß zu fassen in der Gesellschaft, Arbeit zu finden und ein anständiges Leben zu führen.

Neben dieser literarischen Figur treten in Löschs Inszenierung 21 authentische Personen als Sprechchor auf. Von diesen sind die meisten Haftentlassene, einige befinden sich im offenen Vollzug und müssen nach der Vorstellung ins Gefängnis zurück.

Zu Beginn teilen sie ihre Straftaten mit: Diebstahl, Betrug, Erpressung, Drogenhandel, Körperverletzung, Raub, versuchter Mord.

Persönliche Geständnisse sind das nicht. Die Mitwirkenden genießen den Schutz der Gruppe. Sie sprechen im Chor, und wenn sie sich einzeln zu Wort melden, thematisieren sie nicht ihr eigenes Schicksal, sondern das eines oder einer Anderen.

Während der Produktion wurden Interviews mit den Chormitgliedern geführt. Der Text des Stücks ist eine gelungene Collage mit Auszügen aus diesen Interviews und Texten aus Döblins Roman.

Volker Lösch, die Dramaturginnen Beate Seidel und Maja Zade und Chorleiter Bernd Freytag haben das Alte und das Neue, das Literarische und die gesprochenen Wörter so geschickt kombiniert, dass keine Brüche entstehen. Alles zusammen ergibt eine Geschichte, die sich in den 1920er Jahren ebenso ereignen konnte, wie sie heute geschehen kann.

Auf jeden Fall scheinen Gefängnisse, damals wie heute, keine gute Vorbereitung auf ein gesetzestreues Leben in Freiheit zu bieten.

Der Sprechchor besteht aus 19 Männern und zwei Frauen, was der Tatsache Rechnung trägt, dass der weibliche Anteil an Straftätern eine verschwindende Minderheit ist. Andererseits sind Frauen häufig Opfer von männlicher Gewalt.

In Alfred Döblins Roman wie in der Bühnenbearbeitung der Schaubühne geht es um zwei getötete Frauen: Ida, von Franz Biberkopf erschlagen, wofür er vier Jahre im Gefängnis gesessen hat und Mieze, fast erwürgt von Franz, wenn nicht dessen zwielichtiger Freund Reinhold eingegriffen hätte. Später wird Mieze von Reinhold getötet und Franz wird als Miezes Mörder gesucht, obwohl Franz doch unschuldig ist, oder doch nicht?

Die Opfer, diese beiden Frauen, sind nur Randfiguren. Wichtig ist allein der Täter, geschildert als Opfer einer kriminellen Gesellschaft.

Im Schnelldurchlauf von Döblins Romanhandlung geht sehr viel von der Bedrohung, der Entfremdung und Feindseligkeit verloren, die auf den entlassenen Häftling Franz Biberkopf einstürmen.

Sebastian Nakajew gestaltet den Romanhelden als offenherzigen, naiven Menschen, der liebenswert sein könnte, wenn seine Gewaltbereitschaft nicht immerzu spürbar wäre. Nakajew leistet, auch körperlich, Außerordentliches. Zwei Stunden lang ist er immerzu in Bewegung. Auch wenn er nicht rennt, gibt es kein Ausruhen bei ihm. Er steht immer unter Dampf, glaubt, seinem Glück nachzujagen und begreift nicht, dass er selbst ein Gejagter ist.

Neben Sebastian Nakajew wirken zwei weitere Schauspieler und eine Schauspielerin in dieser Inszenierung mit:

Eva Meckbach ist die Prostituierte, die sich vergeblich bemüht, Franzens Potenz zu steigern, wird als Schwester der erschlagenen Ida ganz nebenbei von Franz vergewaltigt, verkörpert die ausgebeutete und weggeworfene Cilly, und schließlich Mieze, die Hure mit dem goldenen Herzen, die, wie Irma la Douce, stolz darauf ist, ihren Mann ernähren zu können.

David Ruland als menschenverachtender, hinterlistiger Reinhold verleiht dieser Figur psychopathische Züge.

Felix Römer präsentiert sich überzeugend als biederer, selbstgerechter Karl wie auch als professioneller Geschäftsmann, der eine Verbrecherbande leitet und liefert einen amüsanten Exkurz zum Thema Drogengebrauch unter Theaterleuten.

Die Ensemblemitglieder der Schaubühne sind häufig in den Chor mit eingebunden. Zu Beginn sitzen alle verteilt im Publikum, erheben sich dann von ihren Plätzen und sprechen gemeinsam oder in kleinen Gruppen. Wenn 25 Menschen gleichzeitig laut werden, dann ist das ziemlich bedrohlich. Ungemütlich wird es aber auch dann, wenn Einzelne im Publikum direkt mit unbequemen Fragen behelligt werden. Was die Träume der Chormitglieder vom Glück angeht, so scheinen sie stark von der Werbung beeinflusst zu sein, unterscheiden sich also kaum von denen der DurchschnittsbürgerInnen.

Chorleiter Bernd Freytag hat, gemeinsam mit allen Beteiligten, hervorragende Arbeit geleistet.

Eine erhöhte Bühne gibt es nicht. Unten, vor der Zuschauertribüne, hat Carola Reuther eine mit Geldstücken ausgeschüttete Spielfläche eingerichtet, auf der Franz Biberkopf später den Halt und die Übersicht verliert. Dorthin schaffen auch die Panzerknacker, von Cary Gayler Comic-echt ausgestattet, unter dem Jubel des Publikums große Mengen von Geldsäcken der Deutschen Bank.

Am Schluss der Vorstellung gibt es ein Happy-End: Franz Biberkopf und seine LeidensgenossInnen erscheinen in exklusivem Outfit, haben es zu Wohlstand gebracht und sind integriert in die kriminelle Gesellschaft außerhalb der Gefängnisse.

Der unterhaltsame Theaterabend wirft viele Fragen auf und vermittelt eine eindeutige Botschaft: Die Häftlinge sind unter uns. Sie haben das gleiche Recht auf Leben wie alle anderen, und sie sind keine besseren und keine schlechteren Menschen als viele, die niemals mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind. Vor einigen von ihnen ist Vorsicht geboten, wie ganz allgemein Vorsicht geboten ist vor Menschen in einer kriminellen Gesellschaft wie der unseren.

„Berlin Alexanderplatz“, eine freie Bühnenbearbeitung der Schaubühne Berlin des Romans von Alfred Döblin mit Chören von Volker Lösch und dem Ensemble hatte am 13.12. Premiere in der Schaubühne. Weitere Vorstellungen: 01., 08., 10., 11. und 12.01.2010.

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