Der Arzt (Rainer Bock) hat einen absichtlich inszenierten Reitunfall, eine Arbeiterin verunglückt tödlich, der Sohn des Gutsherren (Ulrich Tukur) wird misshandelt. Der Pfarrer (Burghart Klaussner) bindet zweien seiner Kinder “Das weiße Band” um, schandmaskenartiges Sinnbild für ihren Ungehorsam. Stumpfheit und Kälte atmen Hanekes brillante schwarz-weißen Bilder der Ortschaft und ihrer Bewohner. Wie die Landschaft unter der winterlichen Eisschicht gefriert, dringt die emotionale Kälte der Menschen immer intensiver durch die Haut nach draußen. Das unbarmherzige Skalpellauge der Kamera schneidet quer durch die sozialen Schichten. Bauer, Mittelstand, Geistlichkeit, Landadel – jeder auf seine Art borniert und verhärtet. “Das weiße Band” ist ein erschreckender Film ohne physische Gewaltszenen. Gewalt ereignet sich unsichtbar, ist hörbar, wenn ein kleiner Bruder nachts seine Schwester weinen hört oder eine Mutter ihr Kind schreien. In unspektakulären Alltagsszenen lässt “Das weiße Band” die Seelenlosigkeit der Dorfgemeinde durchscheinen. Die seelische Rohheit unter der äußerlichen Normalität wird gerade durch ihre Gewöhnlichkeit erschütternd. “Das weiße Band” analysiert keinen singulären Aggressionsausbruch, sondern soziale Gewalt als gesellschaftliche Struktur und Alltagsphänomen. In der schwarzen Pädagogik wird sie von einer Generation an die nächste weitergetragen. In dem Dorflehrer (Christian Friedel) keimt ein furchtbarer Verdacht. Größeres Grauen als die Gewaltakte, welche sich in dem Dorf ereignen, verursacht die klassenübergreifende emotionale Verhärtung. Pfarrer, Arzt, Gutsverwalter (Michael Bierbichler), Baron – weder Stand noch Bildung mildern die Erbarmungslosigkeit der Dorfbewohner.
Eine Hauptfigur gibt es in “Das weiße Band” nicht. Der Lehrer, der seine im Film gezeigten Jugenderinnerungen aus dem Hintergrund erzählt, ist nur Beobachter. “Das weiße Band” endet ohne Aufklärung der Verbrechen. Wie in “Funny Games” oder “Caché” verwährt Haneke dem Zuschauer Reue- oder Schuldbekenntnisse der Täter. Die Taten bleiben ungesühnte Grausamkeit, umso verstörender ob ihrer Sinnlosigkeit. Nicht einmal ein das Handeln des Täters begründendes Rachemotiv existiert. Das erste Verbrechen ließe sich noch als moralische Bestrafung einordnen. Die letzte gezeigte Gewalttat trifft ein geistig zurückgebliebenes Kind. Aus dem, was möglicherweise als Strafakt begann, ist reine Freude am Quälen geworden. Die Grausamkeit beherrscht jene, welche sie zu beherrschen glaubten. Für unschuldig hält sich jeder der Dorfbewohner, doch indem Haneke die Gewaltakte auf Schuldlose ausweitet, kreiert er ein Gefühl universeller Bedrohung. Statt die Kinder zu vernünftiger Skepsis zu erziehen, tötet die schwarze Pädagogik ihrer Eltern deren moralische Urteilsfähigkeit ab. Das Gefühl unabwendbarer Schuldigkeit, welches in den Kindern herangezüchtet wird, löscht gleichzeitig ihr Schuldbewusstsein aus. Wenn Gott die Schuldigen bestraft, folgt daraus, dass jene die Gott nicht bestraft, schuldlos sind, äußert einer der Dorfjungen sinngemäß gegenüber dem Lehrer. Gott ist in “Das weiße Band” abwesend oder aber er schaut zu und schweigt.
Die kindliche Unschuld, an welche “Das weiße Band” seine Träger mahnen soll, fehlt in der Dorfgemeinschaft. In strengen Bildern inszeniert Haneke einen Horrorfilm über fehlgeleiteten Anstand als Nährboden psychischer Rohheit. Der Lehrer bleibt allein mit seinem quälenden Verdacht. Noch gewaltigerer Zerstörung wird über die Dorfgemeinde hinwegfegen, in Gestalt des Ersten Weltkrieges. “Das weiße Band” endet mit der Nachricht vom Attentat auf den österreichischen Thronfolger. Der Ausbruch des ersten modernen Krieges, einer Völker verschlingenden Vernichtungsschlacht, in welcher erstmalig chemische Waffen zum Einsatz kamen, scheint als logische Konsequenz der in den Dorfbewohnern schlummernden Brutalität. Leise hallen die einleitenden Worte der Lehrerestimme nach: Was in dem Dorf geschieht, wirft ein erhellendes Licht auf gewisse Ereignisse in Europa.
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Titel: Das weiße Band
Kinostart: 15. Oktober 2009
Regie und Drehbuch: Michael Haneke
Darsteller: Christian Friedel, Burghart Klaussner, Leonie Benesch, Ulrich Tukur, Ursina Lardi
Verleih: X Verleih
www.dasweisseband.x-verleih.de