Retarder – Die LKW-Dauerbremse

Bei der Fahrt durch die Berge waren die Steigungen gar nicht so sehr das Problem – man spannte einfach so viele Lokomotiven vor die Waggons, bis die Kraft ausreichte. Kopfzerbrechen machte den Ingenieuren vielmehr das Gefälle, das bis zu 30 Prozent erreichte. Die konventionellen Zugbremsen konnten bei den Lasten die erforderlichen Verzögerungen kaum leisten: Sie liefen heiß.

Und so erhielt der Maschinenbauer, Antriebs- und Bremssystemespezialist Voith den Auftrag zur Entwicklung einer hydrodynamischen Bremse. „1959 konstruierten Ingenieure eine Kupplungsbremse für Lokomotiven, die auf den Antrieb wirkte“, so das in Baden-Württemberg beheimatete Unternehmen. Diese Bremse wurde Retarder genannt, vom lateinischen „retardere“, was soviel wie verzögern, aufhalten bedeutet. Von der Eisenbahn fand der Retarder dann seinen Einsatz in Lastwagen und Busse, um die Betriebsbremse zu entlasten. Bei langen Abfahrten kommt es zu Hitzeproblemen, die Bremsscheiben können da schon mal „über 1.000 Grad Celsius erreichen“ und glühen, erklärt Holger Günther von Voith.

Ein hydrodynamischer Retarder ist eine mit Flüssigkeit arbeitende, verschleißfreie Ergänzungs-bremse, die anders als herkömmliche Bremsen nicht auf das Rad wirkt, sondern direkt auf den Antriebsstrang. Dabei wird mit einem über die Gelenkwellen angetriebener Rotor und einem bremsenden Stator in einem Wandlergehäuse gearbeitet, wobei Öl als Arbeitsmedium eingesetzt wird.

Bei Reisebussen sind Retarder inzwischen gesetzlich vorgeschrieben, Fern-Lkw sind zu 90 Prozent damit ausgerüstet. Bei den Bussen wird durch den Retarder verhindert, dass das Fahrzeug leicht nach vorn „nickt“, wie es beim Bremsen über die Räder der Fall ist. Bei den Lkw entlastet der Retarder die Betriebsbremse. Holger Günther: „Die Betriebsbremse ist zu 100 Prozent verfügbar, wenn stark verzögert oder angehalten werden muss. Denn das kann der Retarder nicht, weil er die Antriebswelle zwar verzögert, aber nicht ganz abstoppen kann“.

Der Retarder kann in modernen Fahrzeugen und bei vorausschauender Fahrweise die herkömmliche Bremse weitgehend – bis zu 90 Prozent – ersetzen. Jedoch muß insbesondere bei älteren Fahr-zeugen berücksichtigt werden, dass die Bremslichter dabei nicht aufleuchten. Auch müssen die Fahrer darauf achten, dass bei Benutzung des Retarders die Achsen unterschiedlich verzögert werden, was beim Bremsen auf rutschiger Fahrbahn die Stabilität des Fahrzeugs gefährden kann. Dann sollte man besser die normale Bremse betätigen.

Eine Weiterentwicklung ist der Primär-Wasserretarder (PWR), den Voith erstmals 2002 der Öffentlichkeit präsentierte. Er arbeitet statt mit Öl mit dem Wasser, das gleichzeitig als Kühlmittel des Motors genutzt wird. Die Innovation dabei war, so Voith, „dass wir das Medium nutzen konnten, das über das Kühlsystem sowieso schon vorhanden war“.

Der Wasserretarder hat gegenüber der Ölausführung mehrere Vorteile. Das System ist leistungsfähiger, leichter, kompakter, sicherer und kostenfreundlicher. Der Ölbedarf des Fahrzeugs wird um sechs Liter pro Jahr reduziert, auch fallen Wartung und Altölentsorgung weg. Wasserretarder sind zudem umweltfreundlicher, denn die Betriebsbremse muss im Langstreckenverkehr deutlich weniger eingesetzt werden – bei einer über 3.200 Kilometer langen Fahrt von Deutschland nach Italien zu 70 bis 80 Prozent weniger, so Voith. Damit erhöht sich die Fahrsicherheit, gleichzeitig werden die Bremsstaubemissionen reduziert – um rund 50 Kilogramm auf eine Million Kilometer.

Die jüngste, mit einem Umweltpreis ausgezeichnete Wasserretardergeneration mit dem Kürzel SWR wird im neuen Mercedes-Schwer-Lkw Actros eingesetzt und hat eine Bremsleistung von 700 PS/515 kW. Nach Herstellerangaben stehen zusammen mit der Motorbremse sogar 1.020 PS/751 kW zur Verfügung. Viel Sicherheit, Verschleißreduzierung und Umweltschutz für 4.000 Euro – so hoch ist der Anschaffungspreis der modernen verschleißfreien Lkw-Dauerbremse.

kb

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