Im Schulunterricht erzählt Simon (Devon Bostwick), sein Vater sei Terrorist gewesen, der im Fluggepäck von Simons schwangerer Mutter eine Bombe versteckte. Der geplante Anschlag sei jedoch entdeckt worden. Simons Umgebung unentdeckt bleibt, dass die Geschichte erfunden ist, ein Konstrukt des Schülers und seiner Lehrerin Sabine (Arsinee Khanjian), welche selbst als palästinische Emigrantin Bombenterror miterlebt hat, als Projekt für die Theatergruppe. Tatsächlich wächst Simon nach dem Tod seiner Mutter (Rachel Blanchard) und seines Vaters Sami (Noam Jenkins) bei seinem Onkel Tom (Scott Speedman) auf. Über seine Internetkontakte erlangt Simons erfundene Familiengeschichte eine unvorhergesehene Eigendynamik. Toms im Sterben liegender Vater, von der Handykamera seines Enkels gefilmt, erzählt seine eigene Version der Familiengeschichte. Wie in Simons Vorstellung, war Sami darin ein Mörder. Realität und Fantasie beginnen sich zu einem unentwirrbaren Netz zu verdichten, in dem sich nicht nur die Figuren verfangen, sondern der Regisseur und die Filmhandlung.
Ein Jugendlicher trägt eine fiktive biografische Geschichte vor seiner Klasse und seinen Internet-Freunden vor. Bevor es ihm richtig bewusst wird, verbreitet sich die Lüge als angebliche tatsächliche Begebenheit im Internet. Ohne es beabsichtigt zu haben, hat Simon eine Lüge über sich erzählt, deren Zurücknehmen seine Glaubwürdigkeit und Freundschaften gefährden würde. Nicht nur deshalb spinnt er die Geschichte immer weiter fort, sondern auch, weil die zweifelhafte Macht, die sie auf andere ausübt, ihn fesselt. Doch von Wahrheit, Wunschdenken und Lüge erzählt der Film nicht. Dabei wäre es interessant zu erfahren, warum der Junge gerade diese Lüge wählt. Nicht seine Biografie, sondern die seiner Eltern fiktionalisiert Simon. Stellt er seinen Vater als Terroristen dar, um sich von ihm zu distanzieren, sich selbst indirekt zum Opfer zu stilisieren oder ,weil er sich für etwas schuldig fühlt und die erfundene Schuld des Vaters auf sich überträgt? Keine dieser von der Handlung aufgeworfenen Fragen wird angegangen. Ebenso bleiben die Motive der anspornenden Lehrerin im Vagen. Der deutsche Titel entpuppt sich als irreführend. “Simons Geheimnis” wird gleich zu Beginn der Handlung verraten. Ein richtiges Geheimnis war es nie, denn Simons Vortrag über den angeblichen geplanten Anschlag seines Vaters wurde nicht konsequent als real dargestellt. Eine leichtgläubige Internetgemeinschaft nimmt die unwahrscheinliche Erzählung sofort als Tatsache auf und trägt sie als solche weiter. In der verwirrenden Welt der Online-Kontakte erlangt Simons Geschichte eine größere Bedeutung, als er oder seine Lehrerin es beabsichtigt hatten. Wieder rührt “Simons Geheimnis” hier an ein aktuelles Thema, ohne in die Tiefe zu gehen: die Unkontrollierbarkeit von Gerüchten in der medialen Welt und die Manipulierbarkeit der Massen durch diese.
Der Originaltitel “Adoration” verrät mehr über Atom Egoyans Drama als dessen deutscher Titel. Bewunderung, fast Anbetung empfindet Simon für seine Mutter und deren Musikalität. Eine uneingestandene Bewunderung scheint er auch für seinen Vater Sami zu fühlen. Dessen Darstellung als Terrorist ist unterschwellige Verklärung zu einem aggressiven Männlichkeitsideal, welches Simons erfolgloser, unter Geldproblemen leidender Onkel nicht verkörpern kann. Warum der als sensibel dargestellte Junge sich ein derartiges Ideal sucht, erforscht der Film nicht. Religiöse Identität, Vergangenheitsbewältigung, Reifungsgeschichte und unbewältigte Gegenwartskonflikte überfrachten das Drama. Die Figuren zeigen Ansatz zu Tiefe, doch Egoyan gewährt keinem seiner Protagonisten genügend Spielraum. So bleiben die Figuren oberflächlich, obwohl jede von ihnen vielschichtig genug für ein eigenes Charakterprofil wäre. Die Dramatik der Handlung bleibt steril, verworren, unergründlich. Kaum beginnt man sich in einen Konflikt zu vertiefen, springt die Handlung zum nächsten. Angesichts des konfliktnegierenden, übermäßig versöhnlichen Endes erstreckt sich der Eindruck dieses Beliebigkeitsgefühl auf das gesamte Drama. Austauschbarkeit ist ein schmerzliches Wort für einen Film Egoyans, der mit “Das süße Jenseits” und “Wahre Lügen” der Geläufigkeit fern war. Mit “Simons Geheimnis” ist er besorgniserregend nah am Massengeschmack. Warum, bleibt Egoyans Geheimnis.
Titel: Simons Geheimnis – Adoration
Start: 21. Mai
Regie und Drehbuch: Atom Egoyan
Darsteller: Arsinee Khanjian, Scott Speedman, Rachel Blanchard, Devon Bostwick
Verleih: X Verleih
www.simonsgeheimnis.x-verleih.de