„Provokante Lektüre“

Moderner Wiener Hauptbahnhof. © 2019, Foto: Dr. Bernd Kregel

Wien, Österreich (Weltexpress). Man stelle sich vor: Man sitzt in der Wiener U-Bahn, Linie U3, und liest in einem Buch. Plötzlich wird man von drei Männern körperlich attackiert und zugleich übel beschimpft. Die übrigen Passagiere schauen weg. Die Polizei reagiert mit Schulterzucken. Ein modernes Schauermärchen? Mitnichten. Der Vorfall ereignete sich vor kurzem in Wien. Der Titel des betreffenden Buches: „The Jews in the Modern World“.  Die Leserin: eine – übrigens nichtjüdische – Studentin im Fach Judaistik. Die Männer in der U-Bahn hatten sie an den Haaren gerissen, sie als „Judenschlampe“ und „Kindsmörderin“ tituliert. Doch die Polizisten auf der Kärtnerstraße, von der noch völlig erschütterten Frau auf das soeben Vorgefallene angesprochen, waren nicht beeindruckt: In der aktuellen Konfliktsituation, in aller Öffentlichkeit, ein derartiges Buch zu lesen sei doch eine Provokation, erklärten sie der Frau. Von Antisemitismus, könne hier jedenfalls keine Rede sein – schließlich sei die tätlich angegriffene Frau keine Jüdin. Sie solle den Vorfall „am besten vergessen“.

Tatsächlich? Die Sache hat viele Aspekte – und alle sind alarmierend. Lassen wir die schweigsamen Mit-Passagiere in der U3 beiseite: Zivilcourage war noch nie die Stärke der Wiener. Sofort zur Stelle waren sie allerdings damals, als es 1938 galt, die Wohnungen der danach in Konzentrationslager deportierten Juden zu plündern und deren Besitz zu versteigern. Dass Wiener Polizisten mit verschränkten Armen zuschauen, wenn Unrecht geschieht – vermeintlichen oder echten Juden – hatten wir damals auch schon: Als nämlich in der sogenannten „Reichskristallnacht“ (Novemberpogrom) mehr als 1400 Synagogen und Gebetsräume niedergebrannt, Tausende von Geschäften ausgeraubt und zerstört wurden. Was sich hier und heute, vor dem Wiener Stephansdom, ereignete, war nichts anderes als die klassische Opfer-Täter-Umkehr, die auch die NS-Propaganda so virtuos einzusetzen pflegte: Das Opfer ist selber schuld, wenn sich der Täter „provoziert“ fühlen könnte.

Angegriffen wurde hier nicht nur jene Studentin – sondern auch die Demokratie selbst: Wenn das Lesen eines Buches in der Öffentlichkeit, egal von wem und egal wie dessen Titel lautet, als „Provokation“ gewertet wird, so ist was faul im Staate Österreich. Denn, nicht wahr, dessen Ordnungshüter, sind ja zugleich auch Demokratiehüter – oder sollten es zumindest sein. Dass der Innenminister sofort pflichtschuldigst Schulung und „Sensibilisierung“ seiner Polizeibeamten zum Thema Antisemitismus ankündigte, ist ja nett – aber, wie der Engländer zu sagen pflegt, „too little too late“.

Anmerkung:

Vorstehender Text von Dr. Charles E. Ritterband wurde in „Voralberger Nachrichten“ am 10.6.2021 erstveröffentlicht.

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