„Persilschein für die Exekutive“ – Hans-Jürgen Irmer (CDU) sagt Nein zum Infektionsschutzgesetz

Hans-Jürgen Irmer (2016). Quelle: Wikimedia, CC BY-SA 3.0, Foto: Martin Kraft

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Nachstehend dokumentieren wir den Brief des am 20. Februar 1952 in Limburg an der Lahn geborenen Hans-Jürgen Irmer (CDU), der als Mitglied des 19. Deutschen Bundestages heute mit Nein gestimmt hat. Er stellt sein Wissen und Gewissen über den Fraktionszwang der Altparteien CDU, CSU und SPD.

Sehr geehrter Herr Grosse-Brömer,

die Bundestagsfraktion bittet zu Recht darum, dass Abgeordnete, die einem Gesetzesvorhaben aus Gewissensgründen nicht zustimmen können, dies vorab der Fraktionsführung mitteilen. Ich möchte mich an diese Gepflogenheit halten und in der gebotenen Kürze begründen, warum ich bei dieser Abstimmung zum Infektionsschutzgesetz mit Nein stimmen werde.

Prinzipiell positiv ist die Absicht, dass insgesamt gesehen die Rolle des Deutschen Bundestages gestärkt wird. Gleichwohl sind für mich die Grundrechtseingriffe so entscheidend, dass ich nicht akzeptieren kann, dass diese auf dem Verordnungswege – also ohne Beteiligung des Parlamentes – von der Regierung beschlossen werden können. Ich wäre gerne bereit, einem Gesetz zuzustimmen, wie es im Saarland parteiübergreifend vorgesehen ist. Ministerpräsident Hans hat sich in einem bemerkenswerten Beitrag in der Welt wegen der „nicht unerheblichen Eingriffe in zentrale Grundrechte“ durch die Politik besorgt geäußert, wie es auf Bundesebene vorgesehen ist. Genau deshalb geht man im Saarland den gegenteiligen Weg, indem man den dortigen Landtag vor (!) verschiedenen Schließungs- und Beschränkungsmaßnahmen parlamentarisch einbindet und entscheiden lässt. Außerdem muss dort nach der Gesetzesvorlage die Regierung klar begründen, warum beispielsweise Hotels oder Cafés zum Infektionsgeschehen beigetragen haben.

Es bereitet mir darüber hinaus Unbehagen, dass der Bundestag mit einfacher Mehrheit – ich misstraue meiner eigenen Bundesregierung ausdrücklich nicht – ein solches Infektionsschutzgesetz mit entsprechenden weitreichenden Konsequenzen in kürzester Zeit beschließen kann. Ich habe es darüber hinaus als unglücklich empfunden, wenn im Gesetzesentwurf mehrfach von der „Ermächtigung“ gesprochen wird. Dieser Begriff weckt entsprechende negative Assoziationen, denen ich mich in diesem Kontext ausdrücklich nicht anschließe. Aber ich muss mich politisch nicht wundern, wenn ich durch diese Formulierung den Verschwörungstheoretikern Munition an die Hand gebe.

Ich glaube, dass der Ex-Bundesverfassungspräsident Hans-Jürgen Papier mit seiner Formulierung im Recht ist, wenn er sagt, dass hier ein Persilschein für die Exekutive ausgestellt wird. Er kritisiert, dass bei Abwägung zwischen Gesundheitsschutz und Freiheitsrechten diese Abwägung an die Regierung delegiert werde, statt dem Parlament vorbehalten zu bleiben. In diesem Kontext teile ich auch die Auffassung der Verfassungsexpertin der Bochumer Ruhruniversität, Andrea Kiesling, die gefordert hat, dass der Gesetzgeber ganz klar Ziel und Voraussetzungen von Maßnahmen, ihre Dauer und ihre Grenzen festlegen müsse oder zumindest zeitnah eine parlamentarische ex-ante Legitimierung einholt. All die Grundrechte einschränkenden Maßnahmen sollen jetzt in Form des § 28 Absatz a in Form von Verordnungen möglich sein. Dies halte ich prinzipiell für falsch. Die Eingriffe in die grundgesetzlich verbürgten Rechte werden erheblich eingeschränkt, wie z.B. die Versammlungsfreiheit, die Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit, die Freiheit der Berufsausübung, wie auch Fragen der Religionsausübung und andere freiheitlichen Rechte. Das Ganze in Form von Verordnungen ist für mich inakzeptabel. Hier wäre bei einem Gesetzesentwurf der Fraktionen der saarländische Weg gerade für uns Abgeordnete durchaus diskutierbar gewesen.

Davon unabhängig wäre aus meiner Sicht die Akzeptanz von Maßnahmen der Bundesregierung deutlich höher, wenn man sich nicht nur auf das RKI, dessen Kompetenz nicht angezweifelt werden soll, verlassen, sondern eine Art wissenschaftlichen Beirat etablieren würde, zu dem beispielsweise auch des Helmholtz-Zentrum dazu gehören müsste, wie viele andere Wissenschaftler aus unterschiedlichen Fachbereichen. Hier würde ich mir eine breitere wissenschaftliche Aufstellung wünschen, die aus meiner Sicht auch fachlich zwingend notwendig ist, denn auch die Frage der Schwellenwerte ist schon nicht unumstritten. Auch hier gibt es unterschiedliche Auffassungen. Es wird ohne wissenschaftliche Begründung ein Inzidenzwert von 35 festgesetzt, der dem Ministerium die Möglichkeit gibt, sogenannte Schutzmaßnahmen in stark einschränkender Form vorzusehen. Bei einer Inzidenz von 50 können schwerwiegende Schutzmaßnahmen vorgenommen werden.

Schutzmaßnahmen klingt zunächst positiv, aber es sind de facto gleichzeitig auch erhebliche Einschränkungen, und ich möchte mir nicht ohne wissenschaftliche Absicherungen von einem Ministerium vorschreiben lassen, ob ich meine Wohnung verlassen darf oder nicht. Dies akzeptiere ich nicht. Hätte man einen wissenschaftlichen fachübergreifenden Beirat, der Schwellenwerten definiert, die weitere Indikatoren berücksichtigten, wie die Zahl der Tests, Verfügbarkeit der Tests, gewählte Testverfahren, Sicherheit von Testverfahren… , dann würde prinzipiell auch die Akzeptanz bei denjenigen steigen, die dem RKI gegenüber kritisch eingestellt sind.

Darüber hinaus gibt es eine Fülle von sehr unbestimmten Begriffen, wie „erhebliche Gefahren“, wie „soweit und solange erforderlich“, wie „besondere Bedeutung“ und vieles andere mehr. Hier stellt sich die Frage, wer entscheidet, wer definiert? All dies ist offen.

Ich halte darüber hinaus das parlamentarische Prozedere für sehr unglücklich, um nicht zu sagen ungeschickt. Ich kann nicht erkennen, warum es notwendig ist, dieses Gesetz in der Kürze der Zeit „durchzupeitschen“. Von Anfang November mit erster Lesung, der fehlenden Möglichkeit in der Fraktion, in Ruhe vor Einbringung Begründungen zu erfahren, warum man von Seiten des Ministeriums meint, dies so oder so machen zu müssen, mit einem ersten Änderungsantrag zum 13.11., Sondersitzung am 16.11. nachmittags, alle Unterlagen dafür kamen per Mail um 12.59 Uhr mit elf Änderungsanträgen, einer fehlenden Synopse, so dass ein normaler Abgeordneter auch nicht ansatzweise seriös in der Lage ist, diesen Gesetzentwurf, der erhebliche Auswirkungen haben kann, durchzuarbeiten. Ein solches Verfahren lehne ich prinzipiell ab.

Ich bitte deshalb, bei allem Grundvertrauen in meine Führung der Bundestagsfraktion und in „meine Bundesregierung“ um Verständnis, wenn ich ob der geschilderten Umstände mich außerstande sehe, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen. Mir fällt dies schwer. Ich habe mich lange und intensiv damit befasst, aber Abgeordnete sind nur ihrem Gewissen verpflichtet. Von dieser Freiheit möchte ich Gebrauch machen.

Mit freundlichen Grüßen

Hans-Jürgen Irmer

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