Ohne mich! – Zur Rabin-Gedenkrallye in Tel Aviv

Um ganz ehrlich zu sein: Ich mochte Rabin als Menschen. Ich mochte besonders einige seiner Charakterzüge.

Zunächst seine Ehrlichkeit. Dies ist unter Politikern besonders selten und hob sich ab wie eine Oase in der Wüste. Sein Herz und sein Mund stimmten überein – so weit es im politischen Leben möglich ist. Er log nicht, wenn er es vermeiden konnte.

Er war ein anständiger Mensch. Davon zeugt die „Dollar-Affäre“. Als sein Amt als israelischer Botschafter in Washington DC zu ende war, hinterließ seine Frau Lea ein Bankkonto – gegen das israelische Gesetz jener Zeit. Als dies entdeckt wurde, stellte er sich vor seine Frau und übernahm persönlich die Verantwortung. Damals – anders als heute – war „das Übernehmen von Verantwortung“ noch keine leere Phrase. Er verließ das Ministerpräsidentenamt.

Ich mochte sogar seinen auffälligsten Charakterzug – er war äußerst introvertiert. Er lebte zurückgezogen mit wenig menschlichen Kontakten. Er war nicht einer, der andern schnell auf die Schulter klopfte, er machte auch keine überschwänglichen Komplimente, er war in der Tat eher ein anti-Politiker.

Ich mochte an ihm auch, wie er seinen Gesprächspartnern direkt sagte, was er von ihnen hielt. Einige seiner Äußerungen in pikantem Hebräisch sind ein Teil der israelischen Folklore geworden. Wie z.B. „ unermüdlicher Intrigant“ ( über Peres), „Propeller“ ( über die Siedler, die wie Ventilatoren viel Lärm machen, ohne irgendwohin zu gelangen), „Abfall von Schwächlingen“ (über Leute, die Israel aus Eigennutz verlassen).

Bei ihm gab es kein Small Talk. Bei jedem Gespräch kam er gleich auf das Wesentliche.

Man könnte sich vorstellen, dass diese Charakterzüge andere Leute stören würden. Ganz im Gegenteil, die Leute wurden genau deshalb von ihm angezogen. In einer Welt voller angeberischer, geschwätziger, verlogener, auf den Rücken klopfender Politiker war er eine erfrischende Seltenheit.

Doch mehr als alles andere respektierte ich Rabin für den dramatischen Wandel seiner Einstellung im Alter von 70 Jahren. Der Mann, der seit seinem 18. Lebensjahr Soldat gewesen war, der sein ganzes Leben gegen die Araber kämpfte, wurde plötzlich ein Friedenskämpfer. Und nicht nur ein Kämpfer für Frieden allgemein, sondern für Frieden mit dem palästinensischen Volk, dessen Existenz von den Führern Israels immer abgeleugnet wurde.

Die öffentliche Erinnerung, eines der wirksamsten Instrumente des Establishments, versucht heute, dieses Kapitel auszulöschen. Im ganzen Land kann man Karten kaufen, die Rabin zeigen, wie er König Hussein beim Unterzeichnen des Israel-Jordanien-Friedensabkommens die Hand reichte. Aber es ist fast unmöglich, eine Karte zu finden, die Rabin mit Arafat beim feierlichen Unterzeichnen des Oslo-Abkommens zeigt – als ob dies nie stattgefunden hätte.

Wie ich schon früher berichtet habe, war ich ein Augenzeuge seiner inneren Wende. Seit 1969 bis nach dem Oslo-Abkommen hatten wir immer wieder Debatten über das palästinensische Problem – in der Washingtoner Botschaft, bei Partys, bei denen wir uns zufällig trafen (gewöhnlich an der Bar), im Amtssitz des Ministerpräsidenten und in seiner Privatwohnung.

Bei einem Gespräch 1969 war er strikt gegen irgendwelche Verhandlungen mit den Palästinensern. Ein Satz von damals prägte sich mir ein: „Ich will eine offene Grenze, nicht eine sichere Grenze.“ (Das ist im Hebräischen ein Wortspiel). In jener Zeit verbreitete sein früherer Kommandeur Yigal Alon den Slogan „sichere Grenzen“, um extensive Annexionen der besetzten Gebiete zu rechtfertigen. Rabin wünschte offene Grenzen zwischen Israel und der Westbank, die er König Hussein zurückgeben wollte. Nach diesem Gespräch schrieb ich ihm, die Grenzen wären nur dann offen, wenn es auf der anderen Seite einen palästinensischen Staat gebe, weil wirtschaftlichen Realitäten beide Staaten – Israel und Palästina – zwingen würden, enge Beziehungen zu pflegen.

1975 nach Beginn meiner geheimen Kontakte mit der PLO ging ich (auf ausdrücklichen Wunsch der PLO) zu ihm, um ihn zu informieren. Bei dem Gespräch, das im Amtssitz des Ministerpräsidenten stattfand, versuchte ich, ihn davon zu überzeugen, die „Jordanische Option“ aufzugeben, die ich schon immer für töricht gehalten hatte. Er weigerte sich hartnäckig. „Wir müssen mit Hussein Frieden machen,“ sagte er mir. „Nach dem Unterzeichnen des Vertrages ist es mir egal, ob der König gestürzt wird.“ Wie Shimon Peres und viele andere hegte er die Illusion, dass der König Ost-Jerusalem aufgeben würde.

Ich sagte ihm, ich verstünde die Logik dieses Gedankenganges nicht. Nehmen wir an, dass der König ein Abkommen unterzeichnet und dann gestürzt werden wird. Was dann? Die PLO würde den Staat übernehmen, der sich von Tulkarem bis zu den Zufahrtsstraßen von Bagdad erstrecken würde, wo sich leicht vier arabische Armeen sammeln könnten. War es dies, was er wünschte? fragte ich.

Auch von diesem Gespräch blieb mir ein Satz in Erinnerung: „Ich werde nicht den kleinsten Schritt auf die Palästinenser zu machen, weil der erste Schritt unvermeidlich zur Schaffung eines palästinensischen Staates führen würde, und dies will ich nicht.“ Am Ende sagte er mir: „Ich bin gegen das, was Sie machen, aber ich will Sie nicht daran hindern, sie zu treffen. Wenn Sie bei diesen Begegnungen Dinge hören, von denen Sie denken, dass der israelische Ministerpräsident sie wissen sollte – meine Tür ist offen.“ Das war typisch Rabin. Alle Kontakte waren natürlich illegal.

Danach brachte ich mehrere Botschaften von Arafat, die mir vom PLO-Vertreter in London, Said Hamami übermittelt wurden. Arafat schlug kleine Gesten vor, die auf Gegenseitigkeit beruhten. Rabin wies alle zurück.

Deshalb war ich umso mehr von Oslo beeindruckt. Später erklärte mir Rabin – an einem Shabbat in seiner Privatwohnung – wie er dahin gekommen war. König Hussein hatte seine Verantwortlichkeit für die Westbank zurückgezogen. Die von Israel eingesetzten „Dorfligen“ als fügsame Vertreter der Palästinenser waren kläglich gescheitert. Als Verteidigungsminister rief er die lokalen palästinensischen Führer einzeln zu Konsultationen zu sich, und einer nach dem anderen sagte ihm, dass ihre politische Adresse in Tunis sei. Bei der Madrid-Konferenz (1992) danach war Israel damit einverstanden, mit einer vereinigten jordanisch-palästinensischen Delegation zu verhandeln. Die Jordanier sagten ihnen dann aber, dass sie über die palästinensischen Angelegenheiten mit den palästinensischen Mitgliedern allein diskutieren müssten. Bei jedem Treffen mit den palästinensischen Delegierten baten diese um eine Pause, um mit Tunis zu telefonieren und dort Instruktionen von Arafat zu bekommen. Rabins Schlussfolgerung: wenn alle Entscheidungen sowieso von Arafat gemacht werden, warum dann nicht gleich direkt mit ihm verhandeln?

Es ist über Rabin immer gesagt worden, dass er ein „analytisches Gehirn“ habe. Er hatte nicht viel Phantasie, aber er sah die Tatsachen nüchtern, analysierte sie logisch und zog daraus seine Schlüsse.
Wenn es so ist, warum wurde das Oslo-Abkommen ein Fehlschlag?

Die tatsächlichen Gründe sind leicht zu erkennen. Von Anfang an war das Abkommen auf fragwürdigen Voraussetzungen gebaut, weil ihm die Hauptsache fehlte: eine klare Definition des Endergebnisses des Prozesses.

Für Arafat war es selbstverständlich, dass die übereingekommenen „Interimphasen“ zu einem unabhängigen palästinensischen Staat in der ganzen Westbank und im Gazastreifen führen würden – vielleicht mit kleinerem Austausch von Land; Ost-Jerusalem, einschließlich der muslimischen Heiligen Stätten, sollte Hauptstadt Palästinas werden; die Siedlungen würden aufgelöst werden. Ich bin davon überzeugt, dass er sich mit der symbolischen Rückkehr einer begrenzten Anzahl von Flüchtlingen ins eigentliche Israel begnügt hätte.

Dies wäre Arafats Preis gewesen, um 78% des Landes, auf dem das eigentliche Israel liegt, aufzugeben, und kein palästinensischer Führer der Gegenwart oder Zukunft würde mit weniger zufrieden sein.

Aber Rabins Ziel war unklar, vielleicht sogar für ihn selbst. Damals war er noch nicht bereit, einen palästinensischen Staat zu akzeptieren. Ohne eine übereingekommene Zielsetzung liefen alle „Interimphasen“ schief. Jeder Schritt verursachte neue Konflikte. (Ich schrieb damals, wenn man von Paris nach Berlin fährt, kann man Zwischenstationen machen. Wenn man von Paris nach Madrid fährt, sehen die Zwischenstationen anders aus).

Arafat war sich der Mängel des Abkommens bewusst. Er sagte seinen Leuten, es wäre das „bestmögliche Abkommen unter den schlechtmöglichsten Umständen“ gewesen. Aber er glaubte, die Dynamik des Friedensprozesses würde die Hindernisse auf dem Weg überwinden. Auch ich dachte so. Wir hatten beide unrecht.

Nach dem Unterzeichnen begann Rabin zu zögern. Statt eilig vorwärts zu stürmen, um neue Fakten zu schaffen, zauderte er. Dies gab den oppositionellen Kräften in Israel Zeit, sich vom Schock zu erholen, sich neu zu gruppieren und einen Gegenangriff zu starten, der in der Ermordung endete.

Vielleicht hätte dieser Fehler vorausgesehen werden können. Rabin war von Natur eine vorsichtige Person. Er war sich der großen Verantwortung bewusst, die auf seinen Schultern ruhte. Er hatte keine Neigung zu einem Drama wie Begin, noch war er mit so lebhafter Phantasie begabt wie Herzl. Zum Guten und zum Schlechten lebte er in der Realität. Er wusste nicht, wie er sie ändern sollte, obgleich er wusste, dass er jetzt genau das tun musste.

Aber diese Erklärungen sind nur der Schaum auf den Wellen. Tief unter der Oberfläche waren mächtige Strömungen am Werk. Sie stießen Rabin vom Kurs weg und am Ende verschlangen sie ihn.

Rabin war ein Kind der klassischen zionistischen Ideologie. Er rebellierte nie gegen sie. Er trug in seinen Genen den Code der zionistischen Bewegung, einer Bewegung, deren Ziel es von Anfang an war, das ganze Land zu einem ausschließlich jüdischen Staat zu machen, die die Existenz eines arabisch-palästinensischen Volkes leugnete, und dieses zu ersetzen.

Wie die meisten seiner Generation im Land absorbierte er diese Ideologie mit der Muttermilch und war auch so erzogen. Sie formte seine Ideen so durch und durch, dass ihm dies gar nicht bewusst war. An der entscheidenden Wegkreuzung seines Lebens wurde er zum Opfer eines unlösbaren inneren Widerspruchs: sein analytisches Gehirn sagte ihm, er müsse mit den Palästinensern Frieden machen, einen Teil des Landes „aufgeben“ und die Siedlungen auflösen, während sein zionistisches genetisches Erbe mit aller Kraft dagegen opponierte. Das wurde sogar beim Unterzeichnen des Oslo-Abkommens sichtbar: er reichte Arafat seine Hand, weil ihm dies sein Kopf befahl, aber seine ganze Körpersprache drückte das Gegenteil aus.

Es ist unmöglich, Frieden zu machen, ohne ein grundsätzlich geistiges und emotionales Engagement für Frieden. Es ist unmöglich, die Richtung einer historischen Entwicklung zu verändern, ohne seine Geschichte neu zu überdenken. Für einen Führer ist es unmöglich, sein Volk in eine völlig andere Richtung zu steuern (wie es z.B. Ata Türk in der Türkei tat), wenn er nicht selbst den Wandel verinnerlicht hat. Es ist unmöglich, mit einem Feind Frieden zu schließen, ohne seine Wahrheit zu verstehen.

Rabins innere Überzeugungen entwickelten sich auch nach Oslo weiter. Zwischen ihm und Arafat wuchs der gegenseitige Respekt. Vielleicht würde er auf seine langsame und vorsichtige Weise zum nötigen Wandel gelangt sein. Der Mörder und seine Hintermänner hatten dies befürchtet und entschieden sich, dem zuvor zu kommen.

Rabins Scheitern wird bei der Gedenkrallye nächste Woche genau dort, wo wir vor 14 Jahren Zeugen seiner Ermordung waren, seinen Ausdruck finden. Die Hauptredner werden die beiden sein, die dem Oslo-Abkommen das Grab geschaufelt haben: Shimon Peres und Ehud Barak als auch Zipi Livni und der Erziehungsminister Gideon Sa’ar, die zu den Kräften gehörten, die das Klima für den Mord vorbereiteten. Rabin wird sich in seinem Grab umdrehen – vermute ich.

Werde ich dort sein? Nein, danke!

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Anmerkungen:

Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Der am 31.10.2009 geschrieben Beitrag wurde unter www.uri-avnery.de erstveröffentlicht. Alle Rechte beim Autor.

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