Oh Captain, mein Captain! – Ausgeträumt: Jean-Claude Janers „Sister Welsh ´s Nights“ bei Berlinale Generations

„Ich bin dumm und hässlich.“ Damit hat die 16-jährige Emma Recht. Die Schülerin ist ungepflegt, pummelig und so in ihre Fantasiewelt versponnen, dass nicht nur ihre Klassenkameraden sie für grenzdebil halten. Als Emma in Mathematik an die Tafel gerufen wird, quält sie ihre Mitschüler mit einer misstönenden Arie. Dass die andern sie auslachen, soll echt gemein und total fies sein. Aber wer hätte nicht gelacht, wenn der unsymphatische aus der Reihe vor einem statt des Pythagoras einen Pavarotti-Abklatsch vorführt? Heult Emma sich später bei ihrer Freundin Marion mit oben angeführtem Zitat aus, ist man längst von dessen Wahrheitsgehalt überzeugt. Emma hingegen nicht. Auf den Trost Marions reagiert sie beleidigt, da er ihr zu gering erscheint. Emma zählt zu den Menschen, die sich selbst niedermachen, um von anderen aufgemunter zu werden. „Nach Komplimenten fischen“ bezeichnet dieses Verhalten eine englische Wendung. Regisseur und Co-Drehbuchautor Jean-Claude Janer scheint darin ebenso bewandert wie seine Hauptfigur. Vor ihrem belanglosen Alltag flüchtet sich Emma in Fantasien von einer dramatischen Liebesgeschichte im 19. Jahrhundert. In jener Fantasiewelt liegt die Klippe, von der sich die Titelfigur Sister Welsh aus Liebestollheit stürzt. Reichlich unkeusch für eine Nonne. Der „tiefe Fall“ wird in „Sister Welsh ´s Nights“ allegorisch als – ebenfalls nicht gerade gottgefälliger – Selbstmord inszeniert. Ende? Zu früh gefreut.

Um seinem jugendlichen Publikum einen echten Leinwandsuizid zuzumuten, hält Janer es zu unreif. So steht die Schwester unversehrt wieder auf und die krude Kitschmär geht noch gut eine Stunde weiter. Besagte Nonne ist Emmas Wunschvorstellung ihrer verhassten Mutter. Dass auch Mami Sex hat, mag manchen Kindern komisch vorkommen, aber sie gleich zum Nonnenleben verurteilen? Hier scheint Emmas latenter Sexualneid anzuklingen, welcher sich in gewalttätigen Fantasien gegen Marion manifestiert. Um Marion den Freund auszuspannen, den Emma im wirren Geiste zum Märchenprinzen stilisiert, versucht sie sich attraktiver zu machen. „Hübscher?“, fragt sie den Spiegel. Nein. Doch das sieht sie Emma natürlich anders: „Ja, hübscher.“ Dass für das hässliche Entlein nach der Verwandlung zum schönen Schwan alles gut wird, überrascht nicht. Sechzehn sei das Alter, wo alles passieren könne und nichts passiert, behauptet der Pressetext. Nein, Sechzehn ist das Alter, wo man alle, die so kindisch wie Emma sind als Spätzünder bezeichnet. Für solche scheint „Sister Welsh ´s Nights“ auch sein Publikum zu halten, traktiert es allerdings paradoxerweise mit einer ausgedehnten Sex-Szene. Der wohl längste Beischlaf der Berlinale findet sich ausgerechnet im Kinderfilmprogramm. Wenn das die Oberschwester wüsste. Die Parallelhandlung um Sister Welsh soll wild-romantisch wie eine Novelle Emily Brontes sein. Das künstliche Szenario erinnert allerdings mehr an die Titelzeichnung eines Herzschmerz-Romans aus der Bahnhofsbuchhandlung.

Wer weiß, welche Vorlage das Drehbuch inspirierte („Sister Welsh ´s Nights – die leidenschaftliche Geschichte einer Nonne und ihrer verbotenen Liebe“). Billig wie ein Groschenroman wirkt das historische Szenenbild um das Nonnenkloster. Hier wird Sister Welsh vom Teufel besessen, wenn Emma im realen Leben unselige Erfahrungen zu machen droht. Böse Mädchen kommen in die Hölle. Schlimmer als in „Les Nuits de Sister Welsh“ kann es da nicht sein.

Titel: „Sister Welsh ´s Nights – Les Nuits de Sister Welsh“

Berlinale Generations

Land/ Jahr: Frankreich 2009

Genre: Jugendfilm

Regie: Jean-Claude Janer

Drehbuch: Jean-Claude Janer, Helene Angel, Agnes de Sacy

Darsteller: Ane Brochet, Louise Blachere, Laurent Delbecque, Davia Martelli, Lily Bloom

Laufzeit: 78 Minuten

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