Unter dem Label »Alla turka« wurden im Kammermusiksaal nicht nur Instrumente und Musik aus der Türkei, sondern auch aus anderen Regionen des Nahen und Mittleren Ostens vorgestellt. Die Philharmoniker erweitern nun den Horizont, indem sie in der Spielzeit 2011/2012 mit der Reihe »Unterwegs« die Musik vieler anderer Völker präsentieren. Das Reservoir ist unerschöpflich.
Roger Willemsen, der Kurator, hat auf seinen Forschungsreisen in Afrika, Asien, Ozeanien und Europa die Musik und ihre Interpreten in nicht-westlichen Kulturräumen studiert und macht sie in einer zunächst vierteiligen Konzertreihe in Berlin bekannt. Musik aus Wüsten, Steppen, Klöstern und Tempeln in einen modernen Konzertsaal zu übertragen, findet Willemsen nicht unproblematisch, weil sie aus ihren Milieus gelöst wird, aber das Publikum soll »unerhörte, vielsagende und bewahrenswerte Musik« kennenlernen. Der Kammermusiksaal sei zwar wie ein Zelt gebaut, aber doch eine andere Welt.
Der erste Abend war der Musik der Nomaden gewidmet. Auf der Erde leben 30 bis 40 Millionen Nomaden, die ihre eigene Lebensweise und ihre eigene Erlebniswelt haben. Es sind Völker, die mit ihren Herden umherziehen, nicht aus einem romantischen Freiheitsdrang heraus, sondern weil sie dem Futterangebot für ihre Herden folgen müssen. Sie haben häufig Not und Konflikte mit anderen Stämmen und Seßhaften im Überlebenskampf um Wasser und Futter. Auch politischer und rassistischer Verfolgung sind sie oft ausgeliefert. Sinnfällig ist die wörtliche Übersetzung des Namens der Tuareg in Nordafrika: »Die von Gott Verdammten«, völlig anders als ihre Verklärung als »blaue Ritter der Wüste«.
Willemsen folgt nicht dem Muster der in der Philharmonie üblichen Einführungsveranstaltungen (gegen deren Wert nichts gesagt werden soll), sondern als routinierter Fernsehmoderator betritt er die Bühne und erzählt den Leuten, worum es geht und wie er es selbst entdeckt und erlebt hat. Er geht auch nicht nach hinten ab, sondern tritt unauffällig in den Saal und ist immer da.
Zwei Beispiele aus der Musik der Nomaden brachte er mit: die Gruppen »Tamikrest« aus der Wüstenstadt Kidal in Mali und »Huun-Huur-Tu« aus der nördlichen Mongolei; typisch sind die Kontraste ihrer Umwelt mit 50 Grad Hitze hier und 40 Grad Kälte dort.
Die Tamikrest singen zur E-Gitarre (Schreibweise des Programmhefts) und zu Trommeln ihre schwermütigen Lieder auf die Einsamkeit und Schönheit der Wüste, begleitet von Gedichten berühmter Sänger, gelesen von Christian Brückner.
Die zweite Gruppe nomadischer Sänger kommt von einer nationalen Minderheit der Tuwinen in der nördlichen Mongolei. Die Tuwinen hüten Herden von Schafen, Ziegen, Yaks und Pferden im Altaigebirge. Ihre wichtigsten Begleiter sind die Pferde. Mit vier Jahren kann ein Tuwine »fließend reiten«, wie Willemsen sagt, und ihre Lieder sind nach seinem Empfinden der Gangart ihrer Pferde angepasst. Ihre klassischen Instrumente sind Pferdekopfgeigen. Der Akustik der Steppe entlehnt ist der Khöömei, ein Kehlkopf- und Obertongesang, den die Gruppe »Huun-Huur-Tu« vortrug. Das Publikum war fasziniert von den versprochenen unerhörten Klängen aus den Kehlen der vier Sänger. Das Weltbild der Tuwinen wurde reflektiert in Impressionen des Schriftstellers Galsan Tschinag, der in Leipzig/DDR studiert hat und aus seiner Milieukenntnis die Mitteleuropäer sehr direkt mit ihrem platten Weltbild konfrontiert.
Ein gemeinsames improvisiertes Konzert der beiden extrem unterschiedlichen Gruppen war natürlich eine unwiederholbare Uraufführung. Die Form kann sich wiederholen, das Werk nicht. Alles in allem ein gelungener Start des neuen »Formats«. Besser spricht man von Willemsens Format. Mit seiner Regie und Moderation brachte er eine neue Qualität in die Konzertreihen. Dass es mit den Orchesterwarten manchmal knirschte, ist fast unvermeidliche produktive Realität bei einem neuen Bau des Konzerts. Sie sind eben unterwegs.
Weiter geht es im Februar mit Gesängen aus Klöstern Bulgariens, Armeniens und Tibets.