Lernen von Paul Dessau

Die Ausdünnung der musischen Fächer hat auch ökonomische Konseqenzen für den Bildungsetat und in den Stellenplänen. Bereits im November 2007 hatte die Intendantin der Berliner Philharmoniker, Pamela Rosenberg, das Bezirksamt Berlin-Mitte wegen der Streichung von 18 Lehrerstellen in der Musikschule Mitte scharf angegriffen. Geändert hat sich nichts, eher ist es schlimmer geworden. Die Lehrer werden im Stellenpool des Senats beschäftigt, aber nach dem Auslaufen der Beschäftigungs-Sicherungsvereinbarung haben sie keine Beschäftigungsgarantie mehr. Insgesamt sind es in Berlin 40 Musiklehrer.

Nunmehr haben 13 Dirigenten und Intendanten von Berliner Orchestern und Opernhäusern, darunter Sir Simon Rattle, Daniel Barenboim, Lothar Zagrosek und Ingo Metzmacher, gegen den Abbau der Schulmusik in Berlin prostestiert. In einem Offenen Brief an Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) fordern sie die Rücknahme von Kürzungen und die Erhaltung eines durchgehend verbindlichen Musikunterrichts auf dem bisherigen Niveau der Realschule mit jeweils 1,5 Stunden pro Woche in allen Klassenstufen. 

Die Fakten sind haarsträubend. In der Sekundarstufe I sind seit 1993 die Musikstunden von zwei auf 1,5 oder gar eine Stunde gekürzt worden. Wo vom Schüler Musik oder Bildende Kunst gewählt werden können, fällt möglicherweise der Musikunterricht ganz weg. Im Gymnasium wurde der Musikunterricht der 11. Klasse komplett gestrichen. Es kann passieren, dass Schüler der Klassen 7 bis 9 überhaupt keinen Musikunterricht mehr haben. Schlimmer noch: Die Deutsche Orchestervereinigung stellt fest, dass im gesamten Bundesgebiet bis zu 80 Prozent des Musikunterrichts nicht oder nur fachfremd erteilt werden. Durch die geringe Berührung mit diesem Fach besteht die Gefahr, dass viele Schüler die Wahl von Musik als Leistungs- oder Grundkurs scheuen.

Die Künstler werfen Zöllner vor, den Verlust wichtiger kultureller Möglichkeiten und Traditionen und damit eine Nivellierung des Allgemeinwissens auf naturwissenschaftliche und ökonomische Inhalte billigend in Kauf zu nehmen. »Wie wir so nachwachsendes Publikum heranziehen sollen und mit wem wir in Zukunft die Education-Programme an den Schulen gemeinsam erarbeiten sollen, ist uns ein Rätsel.«

Der Notstand in der musischen Bildung verlangt eine Wende, zumindest die Beibehaltung des status quo. Jedoch scheinen die Autoren des Protestes die Rolle der Education-Programme zu überschätzen. Dem Musikunterricht wird auch mit diesen Programmen nicht auf die Sprünge geholfen. Sie partizipieren eher daran. Wie wäre es, wenn die Spitzen der Orchester es machten wie Paul Dessau und den Musikunterricht in einer Klasse  übernähmen wie einst  Dessau in der Grundschule in Zeuthen? (Nicht wegen Lehrermangels, sondern um einen fruchtbaren Unterricht zu machen.) Das deckte nicht den Lehrermangel ab, wäre aber das Signal der Künstler für den Willen zum Wandel,  würde den Rang der Musiklehrer erhöhen und das Niveau des Musikunterrichts heben. Der eigene Musikunterricht der Künstler würde zeigen, wie ernst es ihnen ist. Mehr als zwei Stunden pro Woche würde ihnen die Schulbehörde ohnehin nicht genehmigen. Was ein Erfahrungsaustausch für den Lehrplan bringen könnte!

Der Komponist Siegfried Matthus hat im Interview mit der jungenWelt (vom 13.3.10) Interessantes zum Inhalt des Musikunterrichts gesagt. Das Mitglied des Kuratoriums der Berliner Philharmoniker meint, man solle sich nicht täuschen über die Wirkung der Education-Programme: sie erreichen nur einen kleinen Prozentsatz der Schüler – in Berlin gibt es 330 000 Schüler.

Für kommenden Dienstag 13 Uhr sind Lehrer, Schüler, Eltern und alle Musikfreunde zu einer Protestkundgebung im Foyer der Berliner Philharmonie aufgerufen. Am Gebäude hängt ein Transparent: »Für Musikunterricht! Gegen die schleichende Verdrängung der Musik aus den Schulen!«

Information: www.berliner-philharmoniker.de

Erstveröffentlichung in jungeWelt vom 13.3.2010
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