Zwei Schauspielerinnen und zwei Schauspieler präsentieren sich in verschiedenen Rollen in einer Folge von zunächst zusammenhanglos erscheinenden Szenen, die sich dann jedoch zu einer Geschichte verbinden. Das ist formal hervorragend konstruiert und spannend zu erleben. Inhaltlich ist den Autorinnen über die Idee hinaus, dass Menschen sich ebenso problemlos leiten lassen wie Rindviecher, nicht viel eingefallen. Unter der Regie von Brit Bartkowiak spielt das Ensemble jedoch temporeich und elegant über die Schwachstellen des Stücks hinweg.
Der Künstler Paul versteigert sich in einer Performance zugunsten der libyschen Revolution, während seine Freundin Helene ob dieser Koketterie mit dem Protest entsetzt ist. Im Stück ist es eigentlich Helene, die ihren Körper verauktioniert, und Paul ist der systemkritische Denker, aber in Brit Bartkowiaks Inszenierung ist diese, doch etwas überkommene, Geschlechterrollenzuschreibung glücklicherweise durch Umkehrung aufgehoben.
Ohnehin müssen ja bei der Integration von Menschen in eine gefügige Herde individuelle oder auch geschlechtstypische Unterschiede möglichst unauffällig bleiben. Kostümbildnerin Carolin Schogs hat die DarstellerInnen mit schicker, heller Unisexkleidung ausgestattet. Fröhlichkeit vermitteln auch die hellblauen Vorhänge, mit denen Bühnenbildner Nikolaus Frinke die Spielfläche unterteilt hat und die sich für die verschiedenen Schauplätze öffnen.
Anders als die Anderen, die sich bereitwillig in die vorgegebenen Bewegungsabläufe einordnen, schert Helene aus, beschäftigt sich mit den Menschen, die aus der Sicherheit der Gated Community ausgeschlossen sind und überschreitet die gelben Linien, an denen die Anderen brav entlang trotten.
„Die Politik wurde abgeschafft und durch ein System aus Entertainment und Administration ersetzt“, erklärt die Kämpferin für Freiheit und Menschenwürde, die dann jedoch selbst ein Opfer des Entertainments wird. Fasziniert von den Medienberichten über die Kuh Yvonne fühlt Helene sich zur Tierbefreierin berufen.
Ein erster Versuch mit Hunden schlägt fehl, denn, ebenso wie den meisten Menschen, scheint auch deren besten Freunden die Sehnsucht nach grenzenloser Freiheit abhanden gekommen zu sein. Also kidnappt Helene eine Kuh. Ob die, wie Helene ganz sicher glaubt, sich begeistert in den Weiten Nordafrikas tummeln würde, bleibt ungewiss, denn auch wenn Kühe fliegen können, fühlen sie sich über den Wolken wohl eher unbehaglich, und so misslingt der Transport. Nachdem das von Helene gecharterte Flugzeug in einen Sturm geraten ist, sorgt die Kuh in ihrer Panik für so gefährliche Schieflagen, dass der Pilot Helenes Erlaubnis erzwingt, die randalierende Passagierin in einer dramatischen Aktion auszuquartieren.
Die wunderbare Komödiantin Anita Vulescia gestaltet die unangepasste Helene in all ihren Facetten, als kritische Denkerin, lustvolle Provokateurin, Wutbürgerin, romantische Revolutionärin und schließlich, weltfremde Fanatikerin, schlüpft, ganz en passant, auch in andere Rollen und erweist sich zudem wieder einmal als brillante und höchst disziplinierte Ensemblespielerin.
Zu Beginn und am Schluss präsentieren sich die AkteurInnen, alle mit dem gleichen verbindlichen Grinsen, als ModeratorInnen einer Infoveranstaltung zum Herdenmanagement mit der Zielsetzung, Mensch sowie Rind in ansprechend designter Umgebung gewaltfrei zu lenken.
Sogar der afrikanische Fischer, den die EU-Grenzschutztruppe Frontex aus dem Wasser zieht, erfährt eine korrekte Behandlung, obwohl es bei ihm nicht um Integration, sondern um Ein- oder, lieber, Aussperrung geht. Benjamin Lillie als Herr Asch-Schamich und Franziska Machens als seine Dolmetscherin parlieren, zunächst munter und dann zunehmend erschöpft, melodisch klingende Unverständlichkeiten, während der Frontex-Kommissar (Sebastian Grünewald) sich partout nicht vorstellen kann, dass ein armer afrikanischer Fischer nicht die Absicht haben sollte, sich in die EU-Staaten einzuschleichen.
Die Eingeborenen sind auch im All-inklusiv-Urlaub unter Kontrolle, und weil Schönheit und Gesundheit Lebensqualität für Mensch und Vieh garantieren, können Clara (Franziska Machens) und Paul (Sebastian Grünewald) im Spa mit Kleidern und Schuhen auch alle Probleme von sich werfen.
Die Leichtigkeit, mit der das Ensemble die europäische Wohlstandsgesellschaft parodiert, verlockt zum Nachdenken darüber, ob Freiheit, neben der Befriedigung von Konsum- und Sicherheitsbedürfnissen, überhaupt noch eine, und wenn ja, was für eine, Rolle spielt, und inwieweit ein gut gefüllter Teller vom Blick über seinen Rand hinaus ablenken kann.
„Yellow Line“ von Charlotte Roos und Juli Zeh hatte, als deutschsprachige Erstaufführung, am 14. September Premiere in der Box des Deutschen Theaters Berlin. Weitere Vorstellungen: 31.10. sowie 02., 04., 09. und 13.11.2013.