Mitchell und Warner machen kein Theater im herkömmlichen Sinn. Sie zeigen die Entstehung eines Films und präsentieren auf einer Leinwand das Endprodukt.
Auf der geheimnisvoll halbdunklen Bühne werden Kameras herum gefahren, vorn rechts steht ein langer Tisch voller Gegenstände, mit denen Maria Aschauer und Lisa Guth die Geräusche für den Film produzieren, in der Kulisse, in einem Flur des gräflichen Hauses, sitzt die Cellistin, die ihrem Instrument schwermütige Klänge entlockt, in der Küche im Hintergrund wirtschaftet statt der originalen Köchin Kristin häufig ihr Double (Cathlen Gawlich), und wenn Kristins Hände auf der Leinwand erscheinen, ist oft vor der Kamera Lisa Guth zu sehen, die diese Hände doubelt.
Die Einblicke in den Produktionsprozess sind weder verwirrend noch desillusionierend. In dieser Präsentation ist auch die Technik Teil des Gesamtkunstwerks und leistet kreative Beiträge zu einer Geschichte, die durch unendlich viele Puzzleteile mit liebevoller Sorgfalt zusammengefügt wird.
Katie Michell hat, frei nach August Strindberg, eine eigene Fassung des Geschlechterkampfdramas „Fräulein Julie“ geschaffen. Hier steht nicht die Titelfigur im Mittelpunkt, sondern die Köchin Kristin, bei Strindberg eine wenig sympathische Nebenfigur. Kristin, deren Name, wie auch der von Julie, in dieser Produktion ungewohnt französisch ausgesprochen wird, übernimmt die Rolle der Erzählerin. Die Kameras folgen Kristins beobachtenden Blicken, und die Mikrofone übertragen, was Kristin hört und belauscht.
Die Geschehnisse, deren Zeugin Kristin wird, betreffen sie unmittelbar, und so ist immer wieder sie auf der Leinwand zu sehen, eine Frau, deren ganze Welt in einer Nacht zerstört wird, eine Verzweifelte, die ihr Gesicht zu wahren versucht, auf dem sich dennoch tiefste Fassungslosigkeit abzeichnet, eine Gebrochene, die sich mit schmerzhafter Anstrengung zu aufrechter Haltung zwingt.
Jule Böwe ist grandios als Kristin. Mit äußerst sparsamer Mimik und verhaltener, dabei ganz klarer, Körpersprache lässt Jule Böwe die Gefühle und Verhaltensweisen der Köchin verständlich werden, ohne deren Geheimnisse zu entlarven.
Kristin erscheint als reservierte Persönlichkeit, die anscheinend vieles weiß, worüber sie nicht spricht. So übergibt sie Julie mit verschlossener Miene diskret ein Fläschchen, offenbar etwas, was die Grafentochter bei der Köchin in Auftrag gegeben hatte. Was bei Strindberg ein Mittel ist, mit dem die unerwünschte Trächtigkeit von Julies Hündin behoben werden soll, bleibt bei Katie Mitchell unkommentiert.
Katie Mitchell hat Strindbergs Texte auf die notwendigsten Informationen reduziert. Alles Andere ist von Jule Böwes Gesicht abzulesen. In den Text integriert sind zwei Gedichte der dänischen Lyrikerin Inger Christensen. Aus „Alphabet“, einer poetischen Aufzählung der Dinge, Wesen, Elemente und Ideen, die unsere Welt ausmachen, zitiert Kristin, wie um sich zu vergewissern, dass es Unveränderbares gibt, dass Tauben, Brombeeren oder Träumer weiter existieren, auch wenn Kristins vertraute Umgebung fremd und unbeherrschbar wird.
Bei Katie Mitchell geht es nicht darum, dass Kristin in der Mittsommernacht von ihrem Bräutigam betrogen wird. Kristin weiß, dass der fesche Diener Jean ein Draufgänger ist. Ein Abenteuer mit einem von den Dienstmädchen würde Kristin ihrem Verlobten vermutlich übel nehmen, in Verzweiflung stürzen würde sie deshalb jedoch nicht.
Jean überschreitet jedoch die Standesgrenzen, als er sich mit der Grafentochter einlässt, und auch Julie verstößt schon gegen die Ordnung, wenn sie in der Küche, in Kristins Reich, mit dem Diener zusammen sitzt.
In der Mittsommernacht wird nicht nur gefeiert und geliebt, es ist auch die Nacht, in der die Naturgeister sich den Menschen nähern. Die kleinen Blumen, die Kristin auf Tischen ordnet, in ihrem Gesangbuch presst und unter ihr Kopfkissen legt, sind Orakel, die über die Zukunft Auskunft geben.
Kristin weiß, dass Furchtbares geschehen muss, wenn nichts mehr an seinem angestammten Platz ist, wenn der Diener den Herrn spielt und die Herrschaft sich mit den Dienstboten gemein macht, und sie sieht die Katastrophe voraus, das Blut, das am Ende fließen wird.
Die Detailversessenheit bei der Ausstattung, kennzeichnend für alle Produktionen von Katie Mitchell, ist auch im Bühnenbild und in den Kostümen von Alex Eales erkennbar. Alles ist historisch getreu im Stil des ausgehenden 19.Jahrhunderts ohne deshalb museal zu wirken, denn das sorgsam gepflegte Inventar weist auch Gebrauchs- und Abnutzungsspuren auf. Auf der Leinwand ist das schön gemaserte Holz einer abgetretenen Treppenstufe zu sehen oder die abgestoßene Ecke einer Emailschüssel.
Julie und Jean, deren Aktionen das Stück voran treiben, sind in dieser Produktion sehr präzise charakterisierte Randfiguren. Tilman Strauß, eigentlich gar nicht der Typ des gewaltbereiten Macho, präsentiert Jean mit knapper, befehlender Redeweise und hervorragend getimten Bewegungen überzeugend und erschreckend als dumpfe, triebgesteuerte Dienerkreatur, die vom Glanz herrschaftlichen Lebens träumt.
Laura Tratnik als Julie ist nur wenige Male in Großaufnahme auf der Leinwand zu sehen. Sie erscheint als verwöhntes Geschöpf, kindlich übermütig, fest davon überzeugt, dass alle ihr gehorchen müssen und doch auf der Suche nach Geborgenheit in Kristins heimeliger Küche und im vertrauten Gespräch mit dem Diener. Als der ihr das Heft aus der Hand nimmt ohne ihr den Schutz zu bieten, nach dem sie sich sehnt, entscheidet die in Schande gefallene Grafentochter sich für den Selbstmord.
„Fräulein Julie“ frei nach August Strindberg hatte am 25.09.2010 Premiere an der Schaubühne. Weitere Vorstellungen: 17., 18. und 19.11.2010.