In weiter Ferne so nah – Philippe Liorets Flüchtlingsdrama „Welcome“ bewegt dramatisch und politisch

„Sonst kannst du im Hafen schwimmen.“, droht der Schwimmlehrer Simon (Vincent Lindon) seinem Schüler Bilal (Firat Ayverdi). Später wird Simon erfahren, daß der siebzehnjährige kurdische Flüchtling genau dafür bei ihm trainiert. Aus dem Irak wollte Bilal als blinder Passagier eines Lastwagens illegal nach England einreisen, wo seine Freundin Mina (Derya Ayverdi) mit ihrer Familie lebt. Seine Flucht endet in Calais in der Abschiebehaft. Wie unerwünschte Güter werden die Exilanten hier nummeriert, im Minutentakt vor dem Richter abgefertigt und ausgewiesen. „Das geht uns nichts an.“, spricht Simon angesichts der drastischen Diskriminierung der Einwanderer die uneingestandene Meinung der Allgemeinheit aus. Bilal lässt sich von Simon trainieren, um den Kanal zu durchschwimmen. Obwohl ihm dessen Aussichtslosigkeit bewusst ist, unterstützt der ehemalige Schwimmmeister Simon Bilals Vorhaben. Eine innige Freundschaft, fast eine Vater-Sohn-Beziehung, wächst zwischen ihnen. Doch „Welcome“ ist keine Heldengeschichte über die Möglichkeit des schier Unmöglichen, sondern die Unmöglichkeit des Möglichen. England wird für die Flüchtlinge zum unerreichbaren Ziel, obwohl es sichtbar nah liegt. „Welcome“ erzählt nicht vom Mut der Verzweiflung, sondern dem Wahnwitz der Hoffnungslosigkeit.

Lioret inspiraten reale Schicksale zu seinem Drama. Die Anfangsszenen von „Welcome“ enthüllen den Titel als zynisches Paradox. „Welcome“ ist innerhalb der Handlung nur eine bedeutungslose Floskel, der symbolisch mit Füßen getretene Aufdruck einer Fußmatte. Die Tür dahinter wird zugeschlagen. Zwei Gruppen von Verbrechern bevölkern den Hafen des winterlichen Calais: die illegalen Emigranten und die vom Staat kriminalisierten französischen Bürger, welche ihnen helfen. Ein Gesetzeserlass stellt jede Hilfe gegenüber den Flüchtlingen unter Strafe: Ausgabe von Essen und Kleidung, medizinische Versorgung, Unterkunft. Der Arm des Gesetzes droht in „Welcome“ nicht nur den Emigranten, wie man es aus Flüchtlingsdramen gewohnt ist, sondern auch Simon und seiner sozial engagierten Frau Marion (Audrey Dana). „Warum tust du das?“, hinterfragt sie Simons veränderte Einstellung. Letztendlich tut es der beruflich und privat gescheiterte Ex-Meister für sich selbst, in der Hoffnung, seine Ex-Frau und seine Selbstachtung zurückzugewinnen. Ein ebenso aussichtsloses Ziel wie das Bilals. Willkommen ist keiner der illegalen Einwanderer. Bilals Erlebnisse während seines Einreiseversuchs gleichen der Folter, welcher er bei einem Fluchtversuch aus dem Irak durch die türkische Polizei erlitt. CO2-Kontrollen zwingen die Flüchtlinge, sich Plastiktüten über den Kopf zu ziehen. Weil Bilal es nicht mehr aushält, wird die Gruppe gefasst. Ein anderer Flüchtling erstickt.

„Ich hoffe, den Zuschauer, der im Dunkeln sitzt, damit zu berühren. Und ich hoffe auch, dass ein wenig haften bleibt.“ Wie es scheint, ist dies mit „Welcome“ gelungen. Zu großen Teilen mit Laiendarstellern besetzt, verfügt „Welcome“ über fast dokumentarische Authentizität und vermag trotz fühlbarer Längen zu berühren. Seine unsentimentale Sachlichkeit verwehrt dem Zuschauer den tröstenden glücklichen Ausgangs. Politisch legt Lioret den Finger in die Wunde. „Welcome“ und eine Diskussion mit Frankreichs Einwanderungsminister Eric Besson stießen eine politische Debatte über die Kriminalisierung der Flüchtlingshilfe an, anlässlich der Liorets Film im Parlament aufgeführt wurde. Die von einer Initiative angestrebte Veränderung des Paragraphen soll den Namen „Welcome“ tragen. „Wir können nichts ändern.“, lässt Lioret Simon in einer Szene sagen. Mit „Welcome“ hat der Regisseur das Gegenteil bewiesen.

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Titel: Welcome

Land/ Jahr: Frankreich 2009

Genre: Drama

Kinostart: 4. Februar 2010

Regie und Drehbuch: Philippe Lioret

Darsteller: Vincent Lindon, Firat Ayverdi, Audrey Dana, Derya Ayverdi

Laufzeit: 115 Minuten

Verleih: Arsenal Film

Internet: www.arsenalfilm.de

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