Im milden Schein der Kanzlerdämmerung – Ein Film über Angela Merkel auf ARTE, MDR und im Ersten

Angela Merkel
Angela Merkel (CDU). © CDU

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Es ist natürlich reiner Zufall, aber die Redakteure der Fernsehsender wissen, was in der Luft liegt, nämlich die Bundestagswahl 2017. Inoffiziell hat der Wahlkampf längst begonnen. Auch die Bundeskanzlerin Angela Merkel ließ sich nicht länger nötigen und gab bekannt, dass sie wieder für das Amt kandidieren wolle. Da passt es wie die Faust aufs Auge, wenn die Sender MDR und ARTE nach dreijähriger Produktion soeben einen Film über Angela Merkel fertiggestellt haben und ihn dem Wahlvolk »hautnah« vorführen können.

Beim Titel »Angela Merkel – Die Unerwartete« muss man erstmal überlegen, was gemeint ist. Er mutet etwas messianisch an – die Gottgestalt, die lange erwartet wurde, an die keiner mehr recht glaubt und die dann ganz überraschend auftauchen kann. Doch die Autoren des Films, Torsten Körner und Matthias Schmidt, bringen uns drauf: Völlig unerwartet tauchte Angela Merkel auf der Politbühne auf – für die Politikerkaste der Alt-BRD. Die machte bis dahin alles unter sich aus wie gewohnt, wobei die Spielregeln mehr oder weniger eingehalten werden. Doch nun fiel ihnen die »deutsche Einheit« überraschend in den Schoß (lange herbeiorganisiert, aber dann doch wie ein Wunder plötzlich da). Da kamen plötzlich Leute aus dem Osten, die mitmachen wollten. Die brauchte man nicht. Aber wenn »der Dicke« an »meinem Mädchen« einen Narren gefressen hatte, durfte man ihm nicht in die Quere kommen. Man musste sie dulden: mal sehen, wie lange die sich hält. Die Unerwartete erwies sich als talentiert, fleißig, zielstrebig und anpassungsfähig. Sie wusste geschickt zu taktieren, im entscheidenden Moment auch gegen ihren Ziehvater Helmut Kohl. Und dann griff sie nach den höchsten Ämtern – Generalsekretärin der CDU, Parteivorsitzende und schließlich Bundeskanzlerin, an allen vorbei, die einen »Anspruch« hatten. Teils wurde sie bestaunt, teils angefeindet, sogar bewundert – eine ernstzunehmende Figur jedenfalls.

Davon handelt der Film, diskutiert von Norbert Blüm, Annette Schavan, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Peter Hintze, Horst Seehofer, Peer Steinbrück, Franz Müntefering, Thomas de Maiziere, Heribert Prantl und selbstverständlich von »Experten«. Nichts sagen wollte zum Beispiel Wolfgang Schäuble, aber verständlich, er hatte ihr einst an der Spitze der CDU weichen müssen. Hauptthema: wie sie die Männer »abgeräumt« hat. Welche oder wessen Interessen ihre politischen Schwenks und Personalentscheidungen bestimmt haben, wird nicht einmal erwähnt. Für die Eliten des Landes ist das Problem nur, wie man sich an die Macht kämpft und sich dort behauptet. Die Frage, ob man etwas tut für das Wohl des Landes, stellt sich gar nicht.
Breit diskutiert wird ihr »Sündenfall«, nämlich die Einladung an die auf der Balkanroute festsitzenden Flüchtlinge aus Syrien, Irak, Iran, Afghanistan usw., nach Deutschland zu kommen. Darüber wird geredet und moralisiert, ohne zu bemerken (oder bemerken zu wollen), dass sich »Mutti« inzwischen um 180 Grad gedreht hat und eine Politik des Abschottens und Abschiebens betreibt oder zumindest auf Druck der CSU und ihres Innenministers duldet. Haben das die Autoren nicht gesehen oder wollten sie den Widerspruch nicht offenlegen?

Nicht thematisiert werden Merkels gnadenlose Großmachtpolitik gegenüber Griechenland, Spanien und Portugal, ja sogar Frankreich, die Vervielfachung der Auslandseinsätze der Bundeswehr während ihrer Amtszeit, der friedensgefährdende Einsatz von Kampf- und Aufklärungsflugzeugen über Syrien, der rechtswidrige Einsatz der Bundeswehr gegen die Demonstranten beim G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm, ihre aggressive Haltung gegenüber Rußland, ihre Forcierung der Sanktionen gegen Rußland und der NATO-Manöver an Rußlands Grenzen, die Unterstützung des Staatsstreichs in der Ukraine. Keine Rolle spielt die Frage, welche Interessen hinter ihr stehen. Keine Erwähnung ihrer serienweisen Auftritte vor Unternehmerverbänden und auf Industriemessen, wo sie jenen alles verspricht, was sie wollen. Keine von Treffen mit Josef Ackermann und Co. Nichts von ihren Versprechen an die Vertreter der Erben, in deren Ergebnis die Reichen fast keine Erbschaftssteuer zahlen, wohingegen die Strafen für Hartz-IV-Bezieher verschärft werden. Kein Wort über ihr Umfallen vor der Atomlobby, keines über die blamable Kapitulation vor der Ausspähung durch die NSA.

Auch der Kanzlerin Herkunft aus der DDR wird geschönt. Es fehlen nicht die Attribute, die jedes Elternherz rühren, exzellente Schülerin, ehrgeizig, leistungsstark, Gewinnerin einer Russisch-Olympiade. Und politisch? Im Film war sie nur »dagegen«. Das verträgt sich schlecht mit dem Privileg, in der Sowjetunion studieren zu dürfen. Gewiss, die Akademie war eine Nische, aber eine sehr bequeme. Auch eine FDJ-Funktion war keine Schande. Die Unerwartete hatte ein Leben in der DDR. Was hat sie davon mitgebracht?

Wenn sich der Zuschauer über die ganze Angela Merkel klar werden will, wird er unwillkürlich die zwei Ebenen erkennen, die Filmemacher sonst gern einziehen. Hier das »historische Porträt«, vor dem sie das ARTE-Magazin sogar als »Mutter Angela«, als das Gewissen der Welt, als globale Barmherzige apostrophiert, und da das Bild, das der Bürger aus dem täglichen Agieren der Kanzlerin und ihrer Regierung gewinnt. Was ist mit Armut, mit Lohn- und Rentengefälle im Osten, was mit dem Notstand an den Universitäten, in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen? »Der Lebensweg Angela Merkels ist auch der Weg vieler Menschen im Osten Deutschlands«, meint der Programmdirektor des MDR, Wolf-Dieter Jacobi, im Pressematerial. »Das hat die Ostdeutschen alle ein bißchen stolz gemacht«, sagt ihr Klassenlehrer aus Templin. Es wird »den Ostdeutschen« nicht schwer fallen, »ihren Weg« zu dem Merkels ins Verhältnis zu setzen.

Deutlich wird, dass Merkel nach elfjähriger Kanzlerschaft an Sicherheit und Selbstbewusstsein gewonnen hat. Sahra Wagenknecht findet es »respektabel, wie sie als Frau eine ganze Männerriege deklassiert hat«. Aber sie erkennt bei ihr kein Wertegerüst und keine feste Linie. Sie wolle sich »irgendwie durchwinden.«

Am Ende des Films werden kritische Töne von Amtsmüdigkeit nicht verschwiegen, aber sogleich bestritten. Es fällt auf, dass Begriffe wie Perspektive, Zukunft oder gar Vision nicht oder nur in der Verneinung vorkommen. Sie habe keine Vision, wie diese Gesellschaft in vier oder fünf Jahren in und mit Europa aussehen würde, meint Peer Steinbrück. Und der Psychologe vom Dienst vermerkt, ihr Versprechen an die Wähler sei die permanente Gegenwart: »Wir wollen nicht in die Zukunft, wir wollen uns nicht verändern. Wir wollen, dass die Verhältnisse ewig so bleiben, wie sie sind.« Wie denn sonst – im Kapitalismus. Merkel heute erinnert an Erich Honecker in seiner Endzeit, mit Ratlosigkeit und Erstarrung. Es bleibt bei eineinhalb Stunden Huldigung. Ein schönes Stück Apologie.

Angela Merkel – Die Unerwartete, Dokumentation von Torsten Köhler und Matthias Schmidt, Koproduktion des Mitteldeutschen Rundfunks und BroadviewTV in Zusammenarbeit mit ARTE für Das Erste, Deutschland 2016, 90 min, Ausstrahlung 6. Dezember, 20.15 Uhr auf ARTE, 12. Dezember, 22.45 Uhr im Ersten und 15. Dezember, 22.35 Uhr im MDR.

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