„Ich treibe nicht, ich werde getrieben”¦“ – Serie: „Ernst Toch. Das Leben als geographische Fuge“ im Jüdischen Museum in Wien (Teil 2/2)

Ernst Toch in seinen letzten Lebensjahren am Piano in Los Angeles, um 1960, UCLA Library Special Collections

Als „Vorzimmer/Paris London, New York, Los Angeles/Später Vormittag. 1933-1938“ ist der dritte Raum betitelt, in dem es um Fassungslosigkeit, Selbstfindung Fluch, Religion und Erinnerung geht. 1937 stirbt seine Mutter in Wien, er spricht er den Kaddisch und beschäftigt sich erstmals ernsthaft mit den religiösen Wurzeln seiner Herkunft, denen gegenüber er jedoch skeptisch bleibt. Die Englisch-Vokabelhefte aus den Dreißiger Jahren aus seinem Besitz sind ein Hinweis darauf, wie intensiv er sich auf das neue Leben einstellt: sein Englisch ist bald schriftreif. 1935 kommt er kurz nach Deutschland zurück, verkauft seine dortige Habe und kann sogar seine Musik in Frankfurt hören. Aus dem Nachlaß erst ergibt sich, wie sehr er unter der Aussonderung durch die Nazis gelitten hat, wie unverständlich ihm alles blieb. Mit „Terrasse/Los Angeles/Später Nachmittag. 1938-1948“ geht es weiter und jetzt hat man sich an die Ausstellungsrhythmik schon gewohnt und sieht die Fotos, Gästebuch, Filme, persönliche Dokumente in einem Zusammenhang. Der Erfolg ist erst einmal vorbei, denn der Vertrieb seiner Werke ist eingestellt, zudem teilt er sein Geld mit den vielen Familienmitgliedern, für die er um ein US-Affidavit ansucht, wobei er mit seinem Vermögen für diese haftet.

Als Letztes herrscht wieder Dunkelheit. „Hotelzimmer/Mitteleuropa/Nacht. 1949-1972“ nennt sich der Schluß der Ausstellung und zeigt erneut Europa, wohin im September 1949 Toch zurückkehrt, und eine erneute Schaffensperiode einleitet, die auch auf Gastaufenthalten in den USA anhält. In Wien spürt er in der kaum zerstörten Leopoldstadt seiner Kindheit nach und kommt in einem Brief auch auf den zerbombten Zirkus Renz zu sprechen. „Außer diesem fand ich nur noch den Tempel in der Tempelgasse, natürlich, und diesen nicht durch Bomben, bis auf wenige Reste der Außenmauern dem Erdboden gleichgemacht.“ Zwischen 1949 und 1964, dem Todesjahr, entsteht neben einer Oper ein Spätwerk von sieben Sinfonien. Wie viele ältere Menschen beginnt er in den Fünfziger Jahren ein Traumtagebuch zu führen, das hier ausgestellt ist, aus dem deutlich wird, wie vor allem die Jugend in Wien, aber auch seine Flucht durch die Welt Spuren in seiner Psyche hinterlassen haben. Obwohl viele persönliche Erinnerungsstücke versammelt sind, Briefe, Fotografien und Dokumente, stellte sich für uns etwas Merkwürdiges ein. Wir hatten nicht den Eindruck, den Spuren eines einzigen Individuums gefolgt zu sein, sondern sahen in Ernst Toch stärker den Repräsentanten für all den Schrecken und das Unheil der Nazis, daß diese auch für die Überlebenden und Exilierten, sogar oder erst recht für die Zurückgekehrten bedeuteten.

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Ausstellung: bis 31. Oktober 2010

Katalog: Ernst Toch. Das Leben als geographische Fuge, hrsg. Von Werner Hanak-Lettner und Michael Haas, Jüdisches Museum der Stadt Wien 2010. Liest man den zweisprachigen Katalog, links das Englische, rechts auf Deutsch, dann will man anschließend gleich wieder in die Ausstellung hineingehen. Denn wie immer, übersieht man so manches, was einem beim Lesen auf einmal so interessiert, daß man die Originale sehen will. Erst recht die Musik hören. Das aber haben die Katalogmacher schon vorausgesehen und das einzig Vernünftige gemacht, was man bei einem Musiker tun sollte. Seine Hörbeispiele der Ausstellung sind auf der CD in elf Stücken mit über 76 Minuten Hörzeit wiedergegeben. Das erste beginnt 1930 „Fuge aus der Geographie“, aber die frühesten sind von 1926 und die letzten aus dem Jahr 1954. Nicht nur für Musikinteressierte sind Katalog und CD sinn- und hilfreich. Wir haben nur eine kurze Biographie von Ernst Toch vermisst, aber vielleicht war die versteckt? Entschädigt wird man auch ohne Katalog mit einer „Spielanleitung mit Objekten“, die jeder Museumsbesucher nehmen kann und in der die Ausstellungsräume hervorragend mit den Lebensdaten und den Objekten eine Einheit finden. Ein wirklich überdurchschnittlicher Ausstellungsführer!

Internet: ww.jmw.at

Reiseliteratur:

Felix Czeike, Wien, DuMont Kunstreiseführer, 2005

Baedecker Allianz Reiseführer Wien, o.J.
Lonely Planet. Wien. Deutsche Ausgabe 2007
Walter M. Weiss, Wien, DuMont Reisetaschenbuch, 2007
Marco Polo, Wien 2006
Marco Polo, Wien, Reise-Hörbuch

Tipp: Gute Dienste leistete uns erneut das kleinen Städte-Notizbuch „Wien“ von Moleskine, das wir schon für den früheren Besuch nutzten und wo wir jetzt sofort die selbst notierten Adressen, Telefonnummern und Hinweise finden, die für uns in Wien wichtig wurden. Auch die Stadtpläne und U- und S-Bahnübersichten führen– wenn man sie benutzt – an den richtigen Ort. In der hinteren Klappe verstauen wir Kärtchen und Fahrscheine, von denen wir das letzte Mal schrieben: „ die nun nicht mehr verloren(gehen) und die wichtigsten Ereignisse hat man auch schnell aufgeschrieben, so daß das Büchelchen beides schafft: Festhalten dessen, was war und gut aufbereitete Adressen- und Übersichtsliste für den nächsten Wienaufenthalt.“ Stimmt.

Anreise: Viele Wege führen nach Wien. Wir schafften es auf die Schnelle mit Air Berlin, haben aber auch schon gute Erfahrungen mit den Nachtzügen gemacht; auch tagsüber gibt es nun häufigere und schnellere Bahnverbindungen aus der Bundesrepublik nach Wien.

Aufenthalt: Betten finden Sie überall, obwohl man glaubt, ganz Italien besuche derzeit Wien! Überall sind sie auf Italienisch zu hören, die meist sehr jungen und ungeheuer kulturinteressierten Wienbesucher. Wir kamen perfekt unter in zweien der drei Hiltons in Wien. Sinnvoll ist es, sich die Wien-Karte zuzulegen mitsamt dem Kuponheft, das auch noch ein kleines Übersichtsheft über die Museen und sonstige Möglichkeiten zur Besichtigung in Wien ist, die Sie dann verbilligt wahrnehmen können. Die Touristen-Information finden Sie im 1. Bezirk, Albertinaplatz/Ecke Maysedergasse.

Essen und Trinken: Völlig zufällig gerieten wir im Februar 2010 nur kurz in die Eröffnung des NASCH im Hilton Plaza. NASCH heißt das neue Restaurant aus gutem Grund, denn es geht auch ums Naschen, man kann sich seine Vorlieben in kleinen Portionen, dafür vielfältig aussuchen, in der Art der spanischen Tapas. Das Entscheidende am neuen Restaurant im Hilton Plaza aber ist, daß die Grundlage die österreichische Küche ist. Man kann sich quasi durch Österreich durchessen. Wir werden das ein andermal tun und dann darüber berichten. Das haben wir immer noch vor!

Mit freundlicher Unterstützung von Air Berlin, den Hilton-Hotels Wien und dem Wien Tourismus.

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