Ich konnte auf Kommando kotzen – Die anarchische Kindheit eines begabten Störenfrieds

© Tropen

Dieses Statement gibt Jón Gnarr fast ganz am Ende seines Buches und wenn der Leser ihm bis hierher gefolgt ist, glaubt er nichts weniger als diese Aussage. Das vorliegende Buch „Indianer und Pirat“ könnte als Initiationsfibel für angehende Punks verkauft werden, so farbig und nachvollziehbar schildert der Verfasser die Einsamkeit seines kindlichen Ichs. Die Verlassenheit, das Anderssein. Als einziges rothaariges und nachgeborenes Kind erfährt Jón Gnarr wenig Verständnis von seinen ältlichen Eltern, die ihn bald als Sonderling beäugen und möglichst wenig Zeit mit ihm verbringen. In die Ferien fahren sie ohne das Problemkind, er muss bei wildfremden Menschen auf abgelegenen Farmen arbeiten und grämt sich. Frühe Besuche bei Kinderpsychologen sind ebenso protokolliert wie die Streiche, die die Eltern zur Verzweiflung bringen. Jón schleppt Steine ins Elternhaus und macht sich wie ein Indianer ein gemütliches Feuerchen in seinem Zimmer. Immer verstehen die Erwachsenen alles falsch. Vieles interessiert sie einfach nicht.

„Mama weiß nichts. Das ist ihr auch vollkommen egal. Sie will überhaupt nicht wissen, wie ein Flugzeug funktioniert oder warum Schiffe nicht sinken, obwohl sie schwer sind.“
Der Vater ist Polizist und Kommunist und abends vor allem müde. Er wirkt meist bedrückt. Jón ist auffällig in der Schule, muss oft zum Direktor und zu Psychologen, welche notieren: „Trotz seines Bedürfnisses nach körperlicher und emotionaler Nähe zeigt der Junge zunehmend Angst vor Erwachsenen und entwickelt Widerstände gegen deren Dominanz.“
Dieses Buch macht betroffen. Der Verlag hat es mit einer großformatigen Kinderfotografie des „zukünftigen ehemaligen Bürgermeisters von Reykjavik“ versehen und als Sachbuch gekennzeichnet. Der traurige Blick hinter einer viel zu großen Brille unter dem gehassten feuerroten Haarschopf macht das Ausmaß des Verhängnisses klar. Hier wurde ein Mensch über Jahre gequält! Aber ist das ein Sachbuch? Außer den beigefügten Protokollauszügen der Kinderpsychologen handelt es sich bei den Erinnerungen eher um Literatur, die stark dokumentarisch entlang eines Zeitstranges erzählt wird. Mit viel Witz und wenig Schonung. Der Autor selbst gibt vorab zu bedenken, dass Memoiren Fiktion seien und nicht alles wahr sei, aber auch nicht alles erfunden. Er möchte, dass wir bei diesem Buch weinen. „Und dass man lacht. Aber das ist kein Pflicht.“
„Meine Schullaufbahn dauerte genau sieben Jahre. Dann ging ich nicht mehr hin. Ich hatte nicht das Gefühl, irgendetwas gelernt zu haben… Mathematik war für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Ich konnte Plus und Minus, und das war es eigentlich auch schon.“
Damit beginnt der zweite Teil der ursprünglich in zwei Büchern erschienenen Memoiren, die 2010 und 2012 während seiner Amtszeit als Bürgermeister in Reykjavik herauskamen. Der Tropen-Verlag lässt uns glücklicherweise gleich im Doppelpack an der Anarchist-Werdung dieses großherzigen Menschen teilhaben. Denn trotz jahrelanger Unterdrückung durch böswillige gleichaltrige oder ältere Mitschüler verabscheut Jón Gnarr Gewalt, er wehrt sich nicht durch Schläge, schützt sich in höchster Angst mal durch Fuchteln mit einem Messer. Meist erträgt er die Hass-Orgien, oder schwänzt. Fährt mit dem Bus durch die Stadt, liest in Bibliotheken und entdeckt den Punk für sich. Der dicke Dori besitzt Punkplatten, Sex Pistols, Sham 69 und The Clash. Eine Offenbarung für Jón! Aber was ist Anarchie und wo bekommt man coole Punkklamotten her? Was singt eigentlich Nina Hagen, deren Bravo-Poster an seiner Wand hängt? Und warum hat Jón noch keine Band? Wie Punks (und Jugendliche, die eine Subkultur für sich entdecken) in aller Welt sucht Jón Gleichgesinnte. Will sich sicht- und hörbar machen, auffallen, zeigen. 
Wenige Menschen begegnen ihm mit Verständnis, zeigen Gehör. Aber es gibt sie doch, und Jón findet Zuflucht, gründet eine Band. Wie der erste und einzige Auftritt der Band „Nefrennsli“ (die Laufnasen) verläuft, lesen Sie selbst und lachen sie lauthals! Aber das ist keine Pflicht.
Schließen wir die unbedingte Empfehlung für dieses Substrat einer Suche nach menschenwürdigen Bedingungen mit dem Autor selbst und seinem Resümee:
„Pippi Langstrumpf war Anarchistin. Wenn alle so wären wie Pippi Langstrumpf, wäre diese Welt ein besserer Ort. Anarcholand gibt es nicht. Vielleicht liegt es ja irgendwo in der Zukunft. Vielleicht aber auch nur in mir selbst.“
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Jón Gnarr, Indianer und Pirat, Kindheit eines begabten Störenfrieds, aus dem Isländischen von Tina Flecken und Betty Wahl, 253 Seiten, Tropen Verlag 2015, ISBN: 978-3-608-50141-4, Preis: 18,95 € (D)
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