Hinter verschlossenen Türen – Andrea Maria Schenkel spricht mit Lida Bach im Interview über „Tannöd“ und die dunkle Seite der Gutbürgerlichkeit

Andrea Maria Schenkel

Wie gingen Sie mit der hohen Erwartungshaltung der Leser nach „Tannöd“ um?

An sich war das gar kein Thema. Für den Leser sind die beiden Romane relativ dicht aufeinander gefolgt. Tatsächlich hatte ich „Tannöd“ schon vor zwei Jahren geschrieben. Als „Tannöd“ der Hype war, ist „Kalteis“ bereits herausgekommen. Daher war da für mich kein Druck.

Auch in Ihrem zweiten Roman „Kalteis“ adaptieren Sie eine tatsächliche Mordserie. Zufall?

Hinterkaifeck ist in Bayern so etwas wie ein Mythos. Es ist etwas, was die Menschen immer wieder bewegt, was nie vergessen wird, was immer wieder in den Zeitungen steht. So ähnlich wie Haarmann in Hannover oder die Nitribitt in Frankfurt. Es für mich unheimlich nahe, diesen Fall zu adaptieren. Bei „Kalteis“ war es anders. Es war ein Fall, der fast in Vergessenheit geraten war. Das hat mich fasziniert. Darauf gekommen bin ich durch Zufall. In einem Katalog der Münchener Polizei.

…und stießen Sie bei den Recherchen zum Mordfall Hinterkaifeck auf andere Fälle, bei denen Sie dachten: „Daraus läßt sich ein toller Krimi machen.“?

Ich mag keine dicken Bücher, keine Wälzer und als Autor orientiert man sich gern an dem, was man selbst gerne ließt. Ich finde es langweilig, einen Detektiv zu haben, von dem die Leute dann immer wissen wolle, wie es mit dem weitergeht.

Gibt es da vielleicht einen Hang zum Morbiden, als Kehrseite des unaufgeregten Alltags?

Meine Oma hat diese Geschichten geliebt, das Düstere vermischt mit Aberglauben. Die Oma hat neben uns gelebt und immer diese Geschichten erzählt, durch die ich schon geprägt bin. Ich hatte nie diese Hanni-und-Nanni-Phase. Im normalen Leben bin ich ein sehr lustiger, offener Mensch. Von daher ist es ein Widerspruch, eine Seite, die man gerne auslebt.

In „Tannöd“ ist die Gewalttat Folge der selbstbestimmten Sexualität einer jungen Frau. Barbara, die erwachsene Tochter, provoziert den Mord, während ihr gewalttätiger Vater als Opfer erscheint.

Für mich stand mehr das Zusammenleben der Gemeinde und das Verdrängen im Vordergrund und diese Kombination zwischen Aberglauben und Religiosität, das Gefangensein in der Gemeinschaft und die unglaubliche Dominanz der Vaterfigur. Ich sehe die Barbara als zentrale Figur des Stücks. Obwohl sie am Anfang Opfer war, wird sie zu Mittäterin. Denn sie akzeptiert das System, sie ist keine reine Opferfigur.

Das Streben nach Unabhängigkeit endet sowohl in „Tannöd“ als auch in „Kalteis“ mit dem Tod. In „Kalteis“ werden junge Frauen ermordet, weil sie ihre Liebespartner frei wählen. Die Morde erscheinen als Strafe für sexuelle Ungebundenheit.

Die freigewählte Sexualität spielt bei „Kalteis“ eine wesentlich größere Rolle als bei „Tannöd“. Wie „Kalteis“ seine eigene Sexualität rücksichtslos ausübt, war für mich zentral. Frauen sind für ihn keine Wesen mit Empfindungen. Es sind Folien, auf denen er seine sexuellen Wünsche ausleben kann. Zum anderen ging es mir darum, den Frauen ein Gesicht zu verleihen.

Während Abhandlungen über den realen Mordfall „Kalteis“ auf die Biederkeit und Rückständigkeit der Ortsbewohner hinweisen, beschreibt „Tannöd“ eher eine heimelige Landatmosphäre. Wie bedeutend für die Morde in „Tannöd“ ist das kollektive Schweigen der Gemeinde?

Das ist genau, was das Dorf braucht: die Schuld möglichst weit weg zu schieben. Sie sagen, es kann keiner aus unserer Mitte sein. Man muß sagen, man schaut jahrelang einem Inzest zu. Kann man sich dann noch im Spiegel anschauen? In gewisser Weise sind alle mitschuldig. Es ist weniger Unwissen, es ist mehr Verdrängen.

Wie haben die Bewohner der Region um das einstige Hinterkaifeck (der Ortsname erlosch, Anm. d. A.) auf „Tannöd“ reagiert? Wurde es als eine Art „Verrat“ empfunden, daß sie den Fall aufgreifen?

Der Oberpfälzer spricht nicht darüber. Man ignoriert ganz einfach. Man macht einen Kommentar vielleicht in den eigenen vier Wänden, aber man versucht möglichst neutral zu sein. Aber in der direkten Umgebung, da herrscht dann eher dieses Totschweigen: „Da sprechen wir nicht darüber.“ Das bleibt hinter verschlossener Tür.

Welche Erwartungen hatten Sie an die Verfilmung und wie hat Ihnen der fertige Film gefallen?

Ich bin mit dem Ergebnis von Bettina Oberli sehr zufrieden, denn sie hat nicht versucht, das Buch eins zu eins zu übersetzen und versucht, etwas hinzuzufügen, nämlich die Geschichte der Kathrin, die ich ganz toll finde. Mir war klar, daß sie etwas verändern würde. Was mich schockiert hat ,war, daß die Frau Hobmaier der Figur der Barbara , wie ich sie im Kopf hatte, so unheimlich ähnlich war. Wie sie sich bewegt hat, wie sie gesprochen hat… Das war fast gruselig. Als hätte jemand meinen Kopf geöffnet. Da hatte ich eine Art Deja-vu.

Haben Sie an Inszenierung und Drehbuch mitgewirkt oder sich eher im Hintergrund gehalten?

Wir haben uns am Anfang kurz getroffen, aber sonst hab ich mich bewußt rausgehalten. Zuerst einmal war ich beschäftigt und ich wollt nicht, daß ich Bettina Oberli zu stark beeinflusse. Ich wollte sehen, wie sie den Text umsetzt. Das ist für mich wesentlich interessanter, als meine eigenen Ideen verwirklicht zu sehen. Momentan beschäftige ich mich mit etwas ganz anderem.

Verraten Sie, worum es sich handelt? Ein neuer Roman?

Momentan mein viertes Buch. Das beruht auch wieder auf einem wahren Fall, ja. Mehr will ich darüber noch gar nicht sagen.

Haben sie auch die Filmrechte für „Kalteis“ verkauft?

Momentan sind die immer noch dabei, das Drehbuch zu schreiben. Hark Bohm wird Regie führen. Ich habe da schon jemanden bei den Darstellern, den ich gerne möchte. Aber da will ich lieber nicht vorweggreifen.

Können Sie sich vorstellen, selbst ein Drehbuch zu schreiben? Ihr Stil ist sehr knapp und dinglich. Manche Passagen lesen sich fast wie ein Drehbuch.

Das dritte Buch „Bunker“ würde mich sehr als Vorlage reizen. Bei den ersten Büchern hat es mich weniger interessiert, aber so langsam…

Sie wagen sich von „Tannöd“ über „Kalteis“ zu „Bunker“ an immer explizitere Gewaltdarstellungen heran. Wie reagieren ihre Leser auf diesen realistischen Stil?

Bei Lesungen stellte ich fest, dasß Frauen den Roman ganz anders lesen als Männer. Für Männer war der Roman bedrohlich und unangenehm. Er spiegelt eine Seite der Sexualität wieder, die viele weg schieben wollten, die sie nicht sehen wollten. Frauen haben mir gesagt, sie finden die Art und Weise, wie das beschrieben ist, sehr authentisch.

Gab es Irritationen in der Familie?

Ja, auf jeden Fall! Mein Mann war sehr irritiert. Das führte dazu, daß er „Tannöd“ bis heute nicht gelesen hat. Er konnte das Buch nicht mit meiner Person zusammenbringen. Das kann er bis heute nicht. Auch meine Schwester hat gesagt: „Also manche Sachen finde ich schon sehr extrem. Muß das sein?“ Aber die Leute gewöhnen sich dran.

Sehen Sie sich vorrangig als Kriminalautorin oder könnten Sie sich auch Romane eines anderen Genres, vielleicht romantisch oder humorvoll, vorstellen?

Ich kann mir durchaus vorstellen, etwas anderes zu machen. Meine Tochter wünscht sich ein Kinderbuch, wobei ich sagen muß, das liegt jetzt ganz weit weg.

Sie griffen in „Tannöd“ und „Kalteis“ stark auf historische Dokumente zurück. „Bunker“ ist ihr erster eigenständiger Roman. Die Kritiken Ihrer Romane fallen negativer aus, je weniger Sie historische Vorlagen einbinden.

Das Interessante ist immer, daß all diese Berichte von denen man glaubt, daß sie authentisch sind, vollkommen fiktiv sind. Mir war von vorne herein klar, daß es dadurch, daß es in „Bunker“ zwei Ich-Erzähler gibt, schwierig wird. „Bunker“ ist ein Buch, das man sehr langsam lesen muß. Das haben mir viele Leser gesagt, die es erst sehr hastig durchgelesen haben, dann langsam durchgelesen und dann erst Zugang bekommen haben. Ich war mir der Gefahr, die „Bunker“ mit sich bringt, durchaus bewußt.

Gab es Enttäuschung Ihrerseits oder in Ihrem Umfeld, daß der Erfolg von „Tannöd“ von den nachfolgenden Büchern nicht erreicht wurde?

Auch „Kalteis“ hat sich sehr gut verkauft und „Bunker“ nicht schlecht. Ich finde es eher unheimlich, daß es bei „Tannöd“ einhellig gute Kritiken waren. Von daher war es mir schon fast bei „Bunker“ lieber.

In Kritiken zu „Tannöd“ wurde teilweise auch angemerkt, der Roman sei spannende Unterhaltung, aber nicht mehr. In Bezug auf die literarische Qualität ist dies schon eine Einschränkung.

Das war bei mir von Anfang an, daß ich die Bücher schreiben möchte, die ich gerne will. Es muß nicht immer ein Bestseller sein, dann wird’s langweilig.

Gibt es Stoffe, welche Sie reizen, die Sie aber nicht ausarbeiten, weil Sie das Thema für überbeansprucht halten?

Da gibt’s auf jeden Fall Dinge, die ich gerne machen würde, aber im Augenblick nicht mache, weil es überbesetzt ist. Mir fallen da spontan zwei Dinge ein. Das eine unbedingt einmal. Warum ist so wenig Nationalsozialismus drin, hieß es bei „Kalteis“. Das hängt damit zusammen, daß ich eine andere Geschichte gerne machen möchte, wo das Thema wesentlich besser aufgehoben wäre. Aber es ist ein sehr sensibles Thema und man muß sich Zeit lassen.

Welcher Kriminalfall interessiert Sie für einen Roman außerdem besonders?

Vera Brühne, weil die eine interessante Figur ist. Aber das haben so viele gemacht. Das sollte man momentan lassen, vielleicht sogar für immer. Unterhalten ohne zu langweilen, ist sehr schwierig. Ich will unterhalten, aber ich will nicht für die Masse schreiben. Würde ich für die Masse schreiben, verfaßte ich Krimis wie Donna Leon.

In einem Interview im Anhang einer späteren Auflage von „Tannöd“…

Das habe ich jetzt gar nicht im Kopf, steht da eines?

Ja, in dem Sie „Raiberdatschi“ machen und sagen, Hausfrau „Das ist für mich kein Schimpfwort“. Ein Satz mit fatalen Auswirkungen, glaube ich…

Ach der! (lachend) Da kam der Reporter gerade rein, als ich Essen machte und da habe ich ihn mit eingebunden. Dieses Klischee mit der Hausfrau ist gerne bedient worden. Meine Schwester hat sich da immer aufgeregt: „Weil du nie eine typische Hausfrau warst.“ Das sind bestimmte Schubladen, Etiketten. Es gab auch Situationen, wo ich mich geärgert habe, aber nichts, was mich aus der Fassung gebracht hat. Ich bin ganz schlecht darin, irgendwelche Artikel durchzulesen…

Ich denke, würde man sich alle negativen Kritiken und Leserbriefe zu Herzen nehmen, liefe man Gefahr, depressiv zu werden.

Ich glaube, ich habe da ein relativ gutes Selbstbewußtsein. Ich lese mir das durch und dann schmeiß ich’s weg.

Die Kritiken im Weltexpress und dieses Interview müssen Sie auch nicht lesen. Aber schön wäre es.

Ich lasse mir das vorlesen. (lacht)

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