Herausforderungen und Herausragendes – Tanz, Film und Therapie beim Festival Foreign Affairs

Eine gute Idee war zweifellos auch die Partnerschaft des Festivals mit den Sophiensaelen. Für eine ganze Reihe von Veranstaltungen fanden sich hier die idealen Räumlichkeiten.

Das vorwiegend junge Publikum verfolgte mit großer Aufmerksamkeit auch so ausgefallene Experimente wie die Uraufführung „Schützen“ von Cecilie Ullerup Schmidt. Die dänische Performerin hielt eine Lehrstunde über das Verhältnis von Körpern und Waffen. Dabei bewegte sie sich, weiß gekleidet, mit tänzerischer Leichtigkeit und beständigem therapeutischem Lächeln, in dem großen Raum vor der Zuschauertribüne im Hochzeitssaal der Sophiensaele.

Cecilie Ullerup Schmidt hat sorgfältig recherchiert, amerikanische und israelische Soldaten interviewt und eigene Erfahrungen mit Schusswaffen bei der Berliner Schützengesellschaft von 1882 gesammelt.

Die Stimmung während des Vortrags ist meditativ, mehrfach fordert die Performerin das Publikum auf, die Augen zu schließen. Kinder spielen fröhlich mit ferngesteuerten Spielzeughubschraubern, das Geräusch eines Schusses, auf fünf Minuten verlängert, ist zu hören.

Es geht nicht um brutale Gewalt, sondern um das institutionalisierte Töten, die Doppelbedeutung des Substantivs Schützen, das sowohl den Waffengebrauch als auch das Beschützen impliziert, und um die erschreckenden Auswirkungen des Umgangs mit Waffen auf die Menschen, die sich ihrer bedienen.

Ebenfalls im Hochzeitssaal der Sophiensaele war „Snake Dance“ von Manu Riche zu sehen, ein Dokumentarfilm über die unaufhaltsame Zerstörung der Erde durch die Atombombe. Schauplätze sind der Kongo, wo der belgische König Leopold II im 19. Jh. nach Uranminen suchen ließ und wo heute illegalisierte Minenarbeiter nach Kobalt graben, New Mexiko, wo Robert Oppenheimer die Atombombe konzipierte, die Wüste von Los Alamos, in der die erste Massenvernichtungswaffe 1942 getestet, Nagasaki, auf das sie im selben Jahr abgeworfen wurde und Fukushima, der Ort der jüngsten Katastrophe.

Begleitet von den Texten des englischen Schriftstellers Patrick Marnham hat der belgische Filmregisseur Menschen und Landschaften eindrucksvoll mit der Kamera eingefangen und weit voneinander entfernte Orte und unterschiedliche Zeiten miteinander verbunden.

Dem Film vorangestellt ist eine Lecture von Jerry Killick mit der Rede, die der Kunsthistoriker Aby Warburg 1923 in der Psychiatrie in Kreuzlingen hielt, um seine geistige Gesundheit zu beweisen. Warburg hatte Ende des 19. Jahrhunderts in Los Alamos die Kultur der Hopi-Indianer und den Klapperschlangentanz entdeckt.

Es ist eine verstörende Reise, auf die Manu Riche und Patrick Marnham das Publikum in dieser Performance mitnehmen.

Während in den Medien das 50jährige Jubiläum der Welthungerhilfe gefeiert, der 870 Millionen hungernder Menschen weltweit gedacht und das Wegwerfen von Lebensmitteln in den reichen Ländern angeprangert wurde, ließ der argentinische Autor und Theaterregisseur Rodrigo Garcí­a den Boden der Großen Bühne im Haus der Berliner Festspiele mit Burger-Brötchen belegen. Sie bildeten den Teppich, auf dem die fünf SchauspielerInnen, eine Frau und vier Männer, in „Gólgota Picnic“ standen, saßen oder sich wälzten, den sie mit Farbe einsprühten und auf den am Schluss ein Flügel gerollt wird.

Einige der Brötchenhälften werden übereinander gestapelt und jeweils mit einer Einlage aus sich windenden Regenwürmern versehen. Zu verfolgen ist das in Großaufnahme auf einer Leinwand, auf der später auch ein Mund erscheint, der ausführlich immer dünner werdenden grünen Brei ausspuckt.

Rodrigo Garcí­as Stück ist eine wütende Auseinandersetzung mit der abendländischen Kultur, in der Leiden, Folter und Hinrichtung am Kreuz verherrlicht und in Kunstwerken idealisiert werden. Der gefallene Engel, auf der Leinwand herabstürzend, diffamiert Jesus als frustrierten Demagogen, durch den so viel Böses in die Welt gekommen sei, dass der Teufel dem nichts mehr hinzufügen könne.

Bei Gastspielen in Paris und Graz hatte es Protestkundgebungen gegen die angeblich blasphemische Inszenierung gegeben, und auch in Hamburg demonstrierten ein paar katholische Gläubige, ohne das Stück gesehen zu haben. Das Berliner Publikum reagierte gelassen, und in der Tat enthält das Manifest, das Rodrigo Garcí­a abwechselnd von seinen SchauspielerInnen vortragen lässt, nichts, was nicht von Religions- und KirchenkritikerInnen schon zur Genüge geschrieben und zu Gehör gebracht worden wäre.

Eine Textpassage ist in deutscher Übersetzung im Programm abgedruckt, wo u.a. über den christlichen Erlöser zu lesen ist: „Er war ein Fußballverweigerer, unfähig, ein paar Bierchen zu trinken, unfähig, sich in ein Gespräch über Frauen mit einem Kollegen zu vertiefen und den letzten Bus zu versäumen.“

Als ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Christentum lässt Garcí­as Text sich nicht bezeichnen, und auch seine Poesie nutzt sich schnell ab.

Die SchauspielerInnen wirkten verloren auf der riesigen Bühne, auf der sie zunächst im Hintergrund bei einem hübsch arrangierten Picknick mit vielen Früchten saßen, um dann ein ekliges Chaos anzurichten.

Nach neunzig Minuten gibt es eine wundervolle Überraschung: Der Pianist Mario Formenti spielt „Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze“ von Joseph Haydn. Bevor Formenti sich an den Flügel setzen darf, muss er sich erst einmal der Nacktheit der SchauspielerInnen anpassen. Er entledigt sich seiner Kleider mit gemessenem Ernst und lässt dabei den Gedanken an Anstößigkeit gar nicht aufkommen. Dann spielt er mit der Konzentration, die auch seine Darbietungen in Kyohei Sakaguchis „Mobile House“ zu einem  unvergesslichen Erlebnis werden ließ.
 
Am Klavier sitzt kein Star, sondern ein hingebungsvoller Diener der Musik, der mit seiner ganzen Seele den Tönen folgt, die er in technischer Vollkommenheit dem Instrument entlockt. Beim Zuhören gerät die Frage nach Sinn und Unsinn von Rodrigo Garcí­as Inszenierung völlig in Vergessenheit.

Bei der Auswahl der Tanz-Veranstaltungen im Rahmen von Foreign Affairs hatte Kuratorin Frie Leysen auf unbestreitbar große Namen gesetzt und damit das Festival um drei ganz unterschiedliche Highlights bereichert.

Die belgische Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker war mit „En Atendant“ und „Cesena“ eingeladen, einem Diptychon, konzipiert für das Festival in Avignon mit Musik aus dem ausgehenden 14.Jahrhundert, der Ars subtilior.

„En Atendant“ ist ein Tanzstück bei Sonnenuntergang, das bei Tageslicht beginnt und im Dunkeln endet, während „Cesena“, ausgehend von der Finsternis, am Ende ins Licht führt. Dementsprechend unterschiedlich sind Arrangement und Choreografie der beiden Stücke.

Eingeleitet wird „En Atendant“ durch eine Flötenkomposition des Ungarn István Matuz, Musik der Entschleunigung, des unendlichen Wartens, des langen Atems. Die vier Tänzerinnen und vier Tänzer gehen und agieren zu Melodien, die sich auf das Lied „En Atendant“ von Filippo Caserta beziehen, begleitet von Flöte, Fiedel und dem wunderbaren Gesang von Annelies Van Gramberen.

Die Große Bühne im Haus der Berliner Festspiele ist schwarz ausgeschlagen, und die TänzerInnen sind schwarz gekleidet. Ganz ohne optische Hilfsmittel lassen sie die Geschichte einer düsteren Zeit lebendig werden, gezeichnet durch die Pest, den hundertjährigen Krieg, das große Schisma. Am Ende verschwindet ein nackter Mensch im Dunkeln.

In „Cesena“ sind die TänzerInnen zugleich SängerInnen. Anfänglich sind sie nur zu hören, ihre Schritte im Dunkeln und ihr Gesang. Ganz allmählich treten sie in Erscheinung, bis am Schluss die Sonne aufgeht und das finstere Mittelalter durch die Renaissance abgelöst wird.

Anne Teresa De Keersmaeker hat mit ihrer Company Rosas „Cesena“ zusammen mit dem Musikwissenschaftler Björn Schmelzer und dem von ihm geleiteten Vokalensemble graindelavoix erarbeitet.

Im Vergleich zu diesen beiden anspruchsvollen Vorstellungen, von denen jede fast zwei Stunden dauerte und Publikum und Bühne in ungeheurer Spannung und Konzentration verbanden, ist „We saw monsters“ von Erna í“marsdóttir eher leichte Kost. Vor allem geht es hier bei Heavy Metal Musik extrem laut zu.

Die isländische Tänzerin und Choreografin, die als Monster, Fee, Engel und Teufel beschrieben wurde, ist in ihrem neuen Stück auch Märchenerzählerin und Urmutter. An ihren Brüsten saugen zwei erwachsene Männer. Einen von ihnen angelt sich der Tod mit seiner Sense, um wie die Katze mit der Maus, mit ihm zu spielen in einer Szene voller Zärtlichkeit, Poesie und Grauen.

Zwei Tänzerinnen mit langen blonden Haaren, Zwillinge, mädchenhaft gleich gekleidet, kriechen über den Boden auf der Flucht vor den Monstern, die hinter ihnen vorbeigehen. So unschuldig wie sie aussehen, sind diese Elfenwesen jedoch nicht. Sie entpuppen sich als Vampire mit blutigen Mündern, sind aber auch zerstückelte Wesen, deren Gliedmaßen sich ablösen, Opfer des deutschen KZ-Arztes, der mit seinen entsetzlichen Versuchen mit Zwillingen der Menschheit einen großen Dienst zu erweisen glaubte.

Die Geschichten, die Erna í“marsdóttir poetisch und geheimnisvoll erzählt, sind keine Märchen, sondern handeln, wie auch der Fall des Kannibalen von Rothenburg, von realen Verbrechen, die durch ihre Perversion und Monstrosität für den menschlichen Verstand nicht mehr zugänglich sind und diffuse Ängste hervorrufen, aus denen Monster werden, wie sie in diesem Stück in Erscheinung treten.

Am Ende wird im Hintergrund der Bühne im Festsaal der Sophiensaele eine paradiesische Insel aufgebaut. Weil aber gerade die heile Welt ein so geeigneter Ort für den Ausbruch des Grauens ist, ertrinkt der Garten Eden mitsamt der arglos nackten Menschen in Strömen von Blut.

Ängste ganz anderer Art löste die Tanzperformance von Boris Charmatz aus. Der französische Tänzer und  Choreograf wurde gerade von europäischen Kritikern der Zeitschrift „tanz“ (Berlin) zum „Choreograf des Jahres“ gewählt und für sein Gesamtwerk und seine jüngste Produktion „enfant“ ausgezeichnet, die bei der diesjährigen Ruhtriennale neben Applaus auch Proteste hervorrief und die im Rahmen der Foreign Affairs auf der Großen Bühne im Haus der Berliner Festspiele zu erleben war.

Zu Beginn beherrscht ein riesiger Kran die Szene, der zum Leben erwacht und das Theater einzureißen droht. Dann packt die wildgewordene Maschine ein am Boden liegendes Kleiderbündel, das sich als Mensch entpuppt, der vom Kran hochgezogen, herumgeschwenkt und auf einem Rüttelbrett abgelegt wird, bevor der Kran nach dem nächsten Kleiderbündel greift. Die Körper, nur an einem Arm oder Bein in schwindelerregende Höhe gezerrt, sind völlig entspannt, die Menschen scheinen zu schlafen.

Nachdem sie, wieder auf dem Boden angekommen, aufgewacht sind, holen die TänzerInnen Kinder auf die Bühne, tragen sie oder schleifen sie hinter sich her. Die Kinder sind ganz teilnahmslos wie vorher die Erwachsenen, und die zerren an ihnen herum, schwenken die kleinen Körper im Kreis, schütteln sie, bewegen ihre Köpfe hin und her.

Auf den ersten Blick ist das erschreckend, denn die Bewegungen der Erwachsenen drücken Ungeduld und sogar Zorn aus. Die Kinder jedoch lassen sich mit geschlossenen Augen ganz entspannt in die Bewegungsabläufe hinein fallen. Es ist ein Spiel, in dem die Erwachsenen ihre Überforderung durch die Kinder ausdrücken und das die Kinder mitspielen.

Später wechseln die Rollen. Die Erwachsenen liegen reglos auf dem Boden und die Kinder übernehmen die Aktion. Dabei beweisen sie gute Zusammenarbeit, und zu Mehreren gelingt es ihnen mühelos, die großen Körper anzuheben und wegzuschleppen.

Ein Rattenfänger erscheint. Er produziert schreckliche Töne mit seinem Dudelsack, und Kinder und Erwachsene laufen ihm nach, bis der Kran ihn packt und an einem Bein in die Höhe zieht.

Am Schluss gehört die Bühne den Kindern. Sie rennen, tanzen, toben, machen riesige Sprünge, wirbeln durcheinander wie ein Bienenschwarm in einer fantastischen Choreografie, die jedoch völlig spontan und improvisiert erscheint.

Eine ungeheure Energie geht von diesen Kindern aus und durch sie werden die Ideen von Freiheit und Lebensfreude auf eine berauschende Weise anschaulich sind und ganz neu zu erfahren.

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