London, Vereinigtes Königreich (Weltexpress). Henkersmahlzeit – der Begriff passt hier nur bedingt. Trotzdem, dieser kommt einem unwillkürlich in den Sinn, wenn man das bescheidene dreigängige Menu vor Augen hat, welches dem britischen Premier Boris Johnson und der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwochabend in Brüssel serviert wurde. Denn dies sei die letzte Chance für ein Brexit-Abkommen. Als Alternative droht der gefürchtete (aber von vielen britischen Brexit-Hardlinern grimmig herbeigesehnte) „No Deal“. Dieser würde zwar dem Vereinigten Königreich nicht gerade den Henkerstrick um den Hals legen, aber doch zu erheblichen Erschwernissen, Komplikationen und damit wirtschaftlichen Einbußen führen.
Wie ein schlechter Witz tönen heute die damaligen Äußerungen führender „Brexiters“ wie des früheren Verteidigungs- und später Handelssekretärs Liam Fox: Ein künftiges Freihandelsabkommen mit der EU werde „einer der einfachsten Verträge der Menschheitsgeschichte“. Der konservative Kabinettsminister Michael Gove verkündete: „Am Tag, nachdem wir die EU verlassen haben, halten wir alle Karten in der Hand und können den Weg in die Zukunft frei wählen. Und geradezu verräterisch die vollmundige Ankündigung von Boris Johnson: „Es gibt keinen Plan für einen ‚No Deal‘, weil wir ein einen großartigen Deal bekommen werden.“
Das bleibt abzuwarten. Eine Ironie der Geschichte ist es, dass 30 Tage vor Ablauf der Übergangsfrist, also bevor das Henkerbeil des Brexit endgültig fällt, sang- und klanglos das 30-Jahr-Jubiläum des Kanaltunnels zu feiern wäre, der ja erstmals seit der Eiszeit die britischen Inseln physisch mit dem Kontinent verbindet. Immerhin zählt der mit über 50 Kilometern längste Unterwassertunnel der Welt, genauso zu den epochalen Bauwerken der Menschheit wie die Chinesische Mauer, die Pyramiden und das Empire State Building. Ob dies den beiden Mineuren Graham Fagg (aus Dover) und Philippe Cozette (aus Calais) bewusst war, als sie sich am 1. Dezember 75 Meter unter dem Meeresspiegel durch das erste Bohrloch die Hände reichten und Flaggen austauschten, ist nicht überliefert. Ironischerweise wird jetzt die 47jährige politisch-wirtschaftliche Verbindung des Königreichs mit Europa gekappt. Gegen den Kanaltunnel gab es seinerzeit emotionale Widerstände: Seit 1066 habe es auf den britischen Inseln keine Invasion mehr gegeben – und der Tunnel böte einem Feind die Möglichkeit, unter dem Meer hindurchzuschlüpfen. Ähnliche Ängste generierte die EU-Mitgliedschaft bei den Engländern – bis heute.
Beim intimen Dinner in Brüssel am Mittwochabend stand Fisch auf dem Menü: Coquilles St. Jaques sowie der luxuriöse Turbot, und nicht die banale Makrele, die den französischen Fischern im Ärmelkanal ins Netz geht, sehr zum Unmut der Engländer, die aber andererseits Makrelen verabscheuen und für ihr Nationalgericht Fish and Chips Cod & Haddock den Vorzug geben. Dennoch: eine brisante Frage. Die Fischerei ist tastsächlich der größte Stolperstein bei den Brexit-Verhandlungen, obwohl die Fischereiindustrie nur 0,2 Prozent des britischen Bruttosozialprodukts ausmacht. Doch Fischtrawler aus der EU fangen den Briten ihre Fische weg – mehr als 60 Prozent der in britischen Gewässern gefangenen Fische gehen in die EU. Und das verletzt den Stolz vieler Engländer. Selbst jener, die eigentlich in der EU bleiben wollten.
Anmerkung:
Vorstehender Artikel von Dr. Charles E. Ritterband wurde am 9.12.2020 in „Voralberger Nachrichten“ erstveröffentlicht.