Auch weiß man nicht, ob alle in dieser Klasse ihre Steuern zahlen, wie das Gesetz es befiehlt. Es sind also Mindestzahlen. Nun ist das Einkommen dieser Klasse nicht gleichzusetzen mit Massenkaufkraft – ein Hauptproblem der deutschen Volkswirtschaft. Aber sicherlich sind es die Schönen und Reichen, die sich Eintrittskarten von 230 Euro im Festspielhaus Baden-Baden leisten und auch die eine oder andere Spende abdrücken können. Der Schaden der Stadt ist es gewiß nicht, und es lohnt sich für sie und die Geschäftswelt, dafür die passende Infrastruktur zu schaffen. Die Welt ist noch heil in Baden-Baden. Dorthin zieht es die Berliner Philharmoniker.
Das renommierte Berliner Orchester ist in aller Welt begehrt. Neben der Philharmonie in Berlin hat es gewissermassen ein zweites Standbein in den alljährlichen Salzburger Osterfestspielen – eine Schöpfung Herbert von Karajans aus dem Jahre 1967, dem der Rahmen der Salzburger (Sommer-) Festspiele zu eng geworden war. Die Osterfestspiele boten Karajan die Möglichkeit, Opern nicht nur zu dirigieren, sondern auch ohne Konkurrenz selbst Regie zu führen. Das von ihm über Jahrzehnte geführte Orchester war ein sicherer Boden und schon für sich allein genommen ein Publikumsmagnet. In Salzburg waren die Karten über Jahre hinaus gebucht, auch Preise von 510 Euro taten keinen Abbruch. Die Festspiele standen im Rufe eines Events für die oberen Zehntausend.
Das ging so lange gut, bis Sir Simon Rattle und sein Orchestervorstand den Ehrgeiz hatten, in Salzburg statt zwei vier Opernaufführungen spielen zu wollen. Das wurde ökonomisch kritisch und führte zu Meinungsverschiedenheiten mit dem Intendanten Peter Alward und der Stadt Salzburg. Trotz der Spannungen kam im Mai dieses Jahres der Entschluß der Berliner Philharmoniker unerwartet, 2012 in Salzburg zum letzten Mal zu spielen und ab 2013 einen Osterzyklus im Festspielhaus Baden-Baden zu bestreiten.
Das Festspielhaus Baden-Baden, 1998 eröffnet, pflegt in »Perioden« zu spielen – ähnlich, wie zum Beispiel das Teatro Colon in Buenos Aires in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts dreimonatige Zyklen für deutsche, italienische, russische und französische Oper veranstaltete. Die bisher vier jährlichen Festspielperioden in Baden-Baden werden ab 2013 ergänzt durch die Osterfestspiele der Berliner Philharmoniker. Der Intendant Andreas Mölich-Zebhauser wusste sein Umfeld so einzuschätzen, dass er auch eine fünfte Periode organisieren kann und genügend Geld in der Hinterhand hat, um die Berliner Philharmoniker verführen zu können, Salzburg aufzugeben. Das Festspielhaus ist mit seinen 2 500 Plätzen das zweitgrößte europäische Opernhaus. Seine Akustik zählt zu den besten der Welt. Das und das Fluidum einer reichen Stadt ist verlockend für ein verwöhntes Orchester.
In Salzburg bahnte sich eine Krise an, aber nicht für lange. Peter Alward gelang in kürzester Frist der Geniestreich, für 2013 bis 2017 die Sächsische Staatskapelle Dresden und ihren neuen Generalmusikdirektor Christian Thielemann für die Osterfestspiele zu verpflichten. Die Presse reagierte bewundernd bis schadenfroh, denn nun kam zur Schote die Überschote: Christian Thielemann und die »Kapelle« werden Ostern 2013 genau das spielen, womit die Berliner sich ursprünglich produzieren wollten: Parsifal von Richard Wagner. Und wo die Berliner Philharmoniker mit dem Teatro Real Madrid kooperieren wollten – und mussten -, kooperieren die Dresdner mit sich selbst: Premiere jeweils in Salzburg und anschließend Aufnahme in den Spielplan der Semperoper. Es fehlt nicht an Elogen für die Dresdner, die mit ihrer Erfahrung als Opernorchester mal richtig Oper vorführen werden.
Die Berliner Philharmoniker wollen nun in Baden-Baden erst recht zeigen, was sie können: szenische Opernaufführungen, Sinfoniekonzerte, Kammermusik, das in Berlin bekannte Education-Projekt mit Kindern und Jugendlichen und andere Schmankerln. Der Intendant Martin Hoffmann will sogar die Eintrittspreise in der neuen Residenz drücken. Die Berliner Philharmoniker sind von sich begeistert.
Man könnte in den Jubel einstimmen, wenn da nicht die raue Wirklichkeit wäre: beide Orchester ziehen nach Süden in blühende Landschaften, während die Orchester- und Theaterlandschaft in den »Neuen Bundesländern« weiter ausgedünnt wird und zum Beispiel das Volkstheater Rostock in Ausweichstätten spielen muss, weil sein Stammhaus baupolizeilich gesperrt ist. Da zu helfen, kommt keinem in den Sinn. Wie die Faust aufs Auge passt da die Dreigroschenoper von Brecht/Weill: »Das ist ´s: man nimmt es. Und wer fragt schon: wem?/ Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm.«
Vorstehender Artikel von Dr. Sigurd Schulze wurde im »Ossietzky«, 15-16/2011, erstveröffentlicht.